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Die Leninsche Theorie des Imperialismus als
Fortsetzung der ökonomischen Lehre von Karl Marx
Wie Karl Marx und Friedrich Engels leistete W. I. Lenin seine wissenschaftliche Arbeit stets im Dienste der Arbeiterklasse. Seine Werke entstanden in der Auseinandersetzung mit bürgerlichen, opportunistischen, vor allem mit reformistischen und revisionistischen Auffassungen, die den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse hemmten. Ausgerüstet mit den umfassenden Kenntnissen der Werke von Marx und Engels, mit der tiefen Analyse der Entwicklung des Kapitalismus und den Erfahrungen des Kampfes der Arbeiterklasse, entwickelte Lenin – entsprechend den neuen Bedingungen – den Marxismus auf dem Gebiet der Philosophie, der politischen Ökonomie und des wissenschaftlichen Kommunismus weiter.
Die entscheidende Weiterführung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der politischen Ökonomie von Marx vollbrachte Lenin mit seiner Lehre von der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus. Die Lehre vom Imperialismus wurde von Lenin in der Periode des Ersten Weltkrieges ausgearbeitet und bildete die theoretische Grundlage für den Kampf der Arbeiterklasse gegen den imperialistischen Krieg und für die Vorbereitung der sozialistischen Revolution. Sie gab der internationalen Arbeiterklasse nach dem Verrat der rechten Sozialdemokraten und zentristischen Führer an den Beschlüssen der Stuttgarter und der Baseler Konferenz der II. Internationale die Möglichkeit, sich neu zu orientieren und zu formieren, „für eine rasche Beendigung des Krieges einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“.2
Das konsequente Eintreten Lenins für die wissenschaftlich begründeten Beschlüsse der II.Internationale wurde von den Feinden des Marxismus-Leninismus, den rechten und „linken“ Opportunisten, zum Anlaß genommen, Lenins Theorie vom Imperialismus als unwissenschaftlich und als politische Zweckmäßigkeitslehre zu bezeichnen.
Das Signal dazu gab der Renegat Kautsky, der schon während des Krieges behauptet hatte, daß der Imperialismus nur eine besondere, durch bestimmte Gruppen von Kapitalisten bevorzugte Politik und kein Entwicklungsstadium des Kapitalismus sei. Er behauptete nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, daß die Errichtung der Diktatur des Proletariats in Rußland nicht das historisch notwendige Ergebnis der Ausnutzung der revolutionären Krise durch das russische Proletariat, sondern der Gewaltakt einer Minderheit wäre. Die Arbeiterklasse könne überhaupt nicht auf dem Wege der Diktatur des Proletariats, das heißt der Herrschaft der Mehrheit des Volkes, zum Sozialismus gelangen, sondern nur auf dem Wege des bürgerlichen Parlamentarismus. Kautsky wurde zum geistigen Vater der antikommunistischen rechtssozialdemokratischen Theorie und Politik des „demokratischen Sozialismus“.3
Bis zum heutigen Tag wird von bürgerlichen Politikern und Ideologen, von rechten und „linken“ Opportunisten und Revisionisten die verleumderische These vertreten, daß Lenins Theorie vom Imperialismus keine logische und historische Weiterentwicklung der ökonomischen Lehren von Karl Marx sei und daß er an die Stelle der ökonomischen Gesetzmäßigkeit die Gewalt als Triebkraft der Entwicklung der Gesellschaft gesetzt habe.
Charakteristisch für diese von „linken“ Kritikern des Marxismus-Leninismus vertretenen Auffassungen sind folgende Ausführungen: „Es sind für Lenin die Machtverhältnisse und ihre Veränderungen, welche diese politischen Formen der Austragung der Konkurrenzkämpfe bestimmen. Der Widerstreit zwischen Konkurrenz und Monopol auf dem Weltmarkt läßt ihn zu einer entscheidenden Revidierung der Marxschen Theorie kommen, auch wenn er diese Revision nicht explizit ausspricht, sondern seine Analysen als Explikation der von Marx angegebenen Entwicklungstendenzen des Kapitals begreift.4
Lenin wird der Revision der Marxschen ökonomischen Lehren bezichtigt, weil er in Weiterentwicklung der Marxschen Lehre den Monopolkapitalismus als Herrschaftsverhältnis und dieses als gesetzmäßiges Produkt der Verwandlung der freien Konkurrenz in das Monopol nachweist. Für die Kritiker dieser wissenschaftlichen Erkenntnis Lenins ist die Anwendung imperialistischer Gewalt ein „Rückfall in Raubverhältnisse“5 und nicht ein Resultat der Entwicklung des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den monopolistischen Kapitalismus. Die Gewalt der imperialistischen Herrschaft und des imperialistischen Krieges ist ein ebenso gesetzmäßiges Produkt der Entwicklung des Kapitalismus wie die revolutionäre Gewalt der Arbeiterklasse, die in die proletarische Revolution und in die Diktatur des Proletariats mündet.
Die ökonomischen und politischen Grundlagen dieses Entwicklungsprozesses haben Marx und Engels ausgearbeitet. Sie wurden von Lenin für den Übergang des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den monopolistischen Kapitalismus weiterentwickelt. „Der Imperialismus“, schreibt Lenin, „erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden.“6 Lenin knüpft damit direkt an Marx und Engels an.
Marx stellt fest, daß die Entwicklung der Produktivkräfte und die Konzentration der Produktion mit Notwendigkeit zur Bildung von Aktiengesellschaften führen. Mit den Aktiengesellschaften erhält aber das Kapital „direkt die Form von Gesellschaftskapital … Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie“ (offensichtlich) „als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt.“7
In einer Einfügung an derselben Stelle schreibt Friedrich Engels mit dem Hinweis auf die Herausbildung monopolistischer Kartelle und Trusts in Amerika und England: „So ist in diesem Zweig“ (in der Alkali-Produktion), „der die Grundlage der ganzen chemischen Industrie bildet, in England die Konkurrenz durch das Monopol ersetzt und der künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste vorgearbeitet.“8
Schon Marx und Engels stellten also den Beginn eines Umschlagens von Grundeigenschaften des Kapitalismus in ihr Gegenteil fest.
Die Frage ist: Welche Grundeigenschaften des Kapitalismus sind im Imperialismus geblieben, welche begannen sich zu verändern und in ihr Gegenteil umzuschlagen?
Ohne jeden Zweifel ist die entscheidende Grundeigenschaft des Kapitalismus, die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten, nicht nur geblieben, sondern sie hat sich enorm verschärft. Geblieben und verschärft hat sich der Grundwiderspruch des Kapitalismus, denn durch den monopolistischen Kapitalismus hat die Vergesellschaftung der Produktion höchste Ausmaße angenommen, und die privatkapitalistische Aneignung ist in wenigen Händen, bei der Finanzoligarchie, konzentriert.
Der monopolistische Kapitalismus hat das Ausbeutungsfeld durch die Bildung des imperialistischen Weltwirtschafts- und Kolonialsystems gewaltig ausgedehnt und die Ausbeutung durch die sprunghafte Entwicklung und die Monopolisierung der modernen Produktivkräfte außerordentlich intensiviert. Geblieben sind die Akkumulation, die Konzentration und die Zentralisation der Produktion und des Kapitals. Sie haben im monopolistischen Kapitalismus außerordentliche Dimensionen erreicht.
Entscheidend hat sich die für den vormonopolistischen Kapitalismus charakteristische freie Konkurrenz verändert. Sie verwandelte sich in die monopolistische Konkurrenz, für die die Anwendung ökonomischer und außerökonomischer Gewalt kennzeichnend ist. Verändert haben sich die Wirkungsbedingungen des Wertgesetzes und des Mehrwertgesetzes. Die Regulatorfunktion des Wertgesetzes wurde eingeschränkt, während das Mehrwertgesetz sich nicht mehr in Form des Gesetzes vom Durchschnittsprofit, sondern in Form des Gesetzes vom Monopolprofit realisiert.
In ihr Gegenteil begann die historische Mission des Kapitalismus umzuschlagen. Zwar treibt auch der monopolistische Kapitalismus die Entwicklung der Produktivkräfte voran – sogar noch rascher – und schafft damit die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus. Aber dieser Entwicklungsprozeß vollzieht sich mit wachsender Ungleichmäßigkeit und Sprunghaftigkeit, ist von einer zunehmenden Fäulnis der Produktionsverhältnisse und des sich verstärkenden Parasitismus der Kapitalistenklasse begleitet.
Eine Veränderung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse äußert sich in einer hochgradigen kapitalistischen Vergesellschaftung und der Trennung von Kapitaleigentum und Kapitalfunktion. Auf politischem Gebiet vollzieht sich mit der Errichtung der Herrschaft der Monopolbourgeoisie immer mehr der Übergang von der Demokratie zur Reaktion.
Der Versuch der rechten und der „linken“ Opportunisten und Revisionisten, Lenins Auffassungen in Gegensatz zu den Erkenntnissen von Marx zu bringen, beruht auf der Trennung von Ökonomie und Politik, die dem Marxismus-Leninismus fremd ist.
Die Ökonomie, das heißt die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in der Produktion und der Verteilung der von ihnen erzeugten Güter zur Befriedigung ihrer materiellen und kulturellen Lebensbedürfnisse, ist immer die Grundlage der Politik. In der Klassengesellschaft sind die gesellschaftlichen Beziehungen immer Klassenbeziehungen, und sie enthalten in den auf der Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaften antagonistische Widersprüche und Gegensätze.
Der antagonistische Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalis-tenklasse ruft zum Beispiel immer gewaltsame Auseinandersetzungen hervor, wenn es bei der Festlegung der Arbeitszeit um die Ausnutzung und Bezahlung der Arbeitskraft geht. Die Auseinandersetzungen erfolgen seitens der Arbeiter in Form von Streiks und seitens der Kapitalisten in Form von Aussperrungen, Polizei- und Militäreinsätzen gegen die Arbeiter.9 Der Konkurrenzkampf der Kapitalisten untereinander ist ein Vernichtungskampf, bei dem ökonomischer Zwang und außerökonomische Gewalt an der Tagesordnung sind. In der Weltarena wird dieser Kampf auch mit militärischen Mitteln geführt.
Daher schreibt Lenin, daß „der Krieg von 1914-1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war … Denn der Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharakter eines Krieges ist selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen, sondern in der Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen …, sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen."10
Um den Imperialismus und seine Politik verstehen zu können, muß man seine ökonomischen Grundlagen analysieren. Das tat Lenin. Die wichtigste der Veränderungen in den Grundeigenschaften des Kapitalismus besteht darin, daß die freie Konkurrenz in das Monopol umschlägt.