Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

5.1
Der Inhalt des Gesetzes

Die ständige Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals ist eng mit dem Akkumulationsprozeß verbunden70. Sie ist ein Ausdruck für die Steigerung der Arbeitsproduktivität im Kapitalismus, für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft, „die sich grade darin zeigt, daß vermittelst der wachsenden Anwendung von Maschinerie und fixem Kapital überhaupt mehr Roh- und Hilfsstoffe von derselben Anzahl Arbeiter in derselben Zeit, d.h. mit weniger Arbeit in Produkte verwandelt werden“71.

Wenn im Prozeß der kapitalistischen Akkumulation beziehungsweise erweiterten Reproduktion die organische Zusammensetzung des Kapitals wächst, wenn also das konstante Kapital schneller wächst als das variable Kapital und ein relativ größerer Teil des Mehrwerts in konstantes Kapital verwandelt wird, dann muß auch die Produktion der stofflichen Elemente des konstanten Kapitals, der Produktionsmittel, schneller wachsen als die Produktion der stofflichen Elemente des variablen Kapitals, der Konsumtionsmittel. Die erweiterte Reproduktion, die mit einer ständigen Erhöhung der organischen Zusammensetzung im Akkumulationsprozeß des Kapitals verbunden ist, erfordert das vorrangige, schnellere Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln beziehungsweise der Abteilung I gegenüber der Produktion von Konsumtionsmitteln beziehungsweise der Abteilung II der gesellschaftlichen Produktion.

Bei der erweiterten Reproduktion lassen sich zwei Arten, die extensiv und die intensiv erweiterte Reproduktion, unterscheiden.

Bei der extensiv erweiterten Reproduktion wächst die Produktion in die Breite, das Produktionsfeld dehnt sich aus. Es erfolgt vorwiegend ein quantitatives Wachstum des Umfangs der Produktionsmittel und der Arbeitskräfte. Das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital, von eingesetzten Produktionsmitteln und Arbeitskräften bleibt gleich. Es handelt sich also um erweiterte Reproduktion bei gleichbleibender organischer Zusammensetzung des Kapitals. Demzufolge ist ein schnelleres Wachstum der Abteilung I der gesellschaftlichen Produktion gegenüber der Abteilung II nicht notwendig.72

Bei intensiv erweiterter Reproduktion wird vor allem „das Produktionsmittel wirksamer gemacht“73, stellt Marx fest. Moderne Technik wird eingesetzt. Im Akkumulationsprozeß verändert sich das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital zugunsten des konstanten Kapitals, der Wirkungsgrad der lebendigen Arbeit erhöht sich, die Arbeitsproduktivität steigt. Menschliche Arbeitskraft wird durch Maschinenanwendung, durch wachsende Mechanisierung und Automatisierung verdrängt und freigestellt.74 Die Abteilung I der gesellschaftlichen Produktion wächst schneller. Dieses schnellere Wachstum der Abteilung I schafft überhaupt erst die Grundlage für das davon abhängige Wachsen der Abteilung II, da die Abteilung I die erforderlichen Produktionsmittel (moderne Maschinen und Ausrüstungen, neue Rohstoffe usw.) liefert.

Beide Arten der kapitalistischen erweiterten Reproduktion, die eng miteinander verflochten sind, treten auch im gegenwärtigen Kapitalismus auf. Historisch gesehen, herrschte zunächst die kapitalistische extensiv erweiterte Reproduktion vor. Dann begann in den industriell entwickelten kapitalistischen Ländern die intensiv erweiterte Reproduktion mehr und mehr zu überwiegen.75

Kapitalakkumulation, extensiv und intensiv erweiterte Reproduktion sind mit steigender Ausbeutung der Arbeiterklasse, mit der Produktion von absolutem und relativem Mehrwert verbunden76, wobei sich die Erhöhung von absolutem und relativem Mehrwert miteinander verflechten, da der Einsatz moderner Technik im Kapitalismus zu erhöhter Arbeitsproduktivität und Arbeitsintensität führt. „Im allgemeinen”, schreibt Marx, „besteht die Produktionsmethode des relativen Mehrwerts darin, durch gesteigerte Produktivkraft der Arbeit den Arbeiter zu befähigen, mit derselben Arbeitsausgabe in derselben Zeit mehr zu produzieren.“77 Der in derselben Arbeitszeit erzeugte Wert stellt sich in mehr Gebrauchswerten dar. Das ändert sich mit wachsender Arbeitsintensität, wenn faktisch – infolge der Anwendung moderner Technik – eine vergrößerte Arbeitsausgabe in derselben Zeit erfolgt und auch eine größere Wertmasse produziert wird. Es tritt eine Veränderung im Charakter des relativen Mehrwerts ein. „Die intensivere Stunde des zehnstündigen Arbeitstags enthält jetzt so viel oder mehr Arbeit, d.h. verausgabte Arbeitskraft, als die porösere Stunde des zwölfstündigen Arbeitstags … Abgesehn von der Erhöhung des relativen Mehrwerts durch die gesteigerte Produktivkraft der Arbeit, liefern jetzt z.B. 3⅓ Stunden Mehrarbeit auf 6⅔ Stunden notwendiger Arbeit dem Kapitalisten dieselbe Wertmasse wie vorher 4 Stunden Mehrarbeit auf 8 Stunden notwendiger Arbeit.“78 Das Kapital ist bestrebt, die Arbeitsproduktivität und die Arbeitsintensität systematisch zu steigern. Es nutzt jede technische Entwicklung, jede Verbesserung der Maschinerie usw. dazu aus. Die kapitalistische erweiterte Reproduktion bedeutet daher für die Lohnarbeiter eine verstärkte, intensivere Ausbeutung, eine erhöhte Verausgabung von geistiger und körperlicher Arbeitskraft.

Unter den Bedingungen der kapitalistischen erweiterten Reproduktion, die mit wachsender organischer Zusammensetzung des Kapitals, mit dem technischen Fortschritt und steigender Arbeitsproduktivität eng verbunden ist, wirkt also das objektive ökonomische Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln gegenüber der Produktion von Konsumtionsmitteln. Es erfaßt den inneren notwendigen Zusammenhang zwischen der Veränderung der Zusammensetzung des Kapitals und der Reproduktion seiner beiden Elemente aus dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt. Es kann auch als Gesetz des schnelleren Wachstums des konstanten Kapitals gegenüber dem variablen Kapital formuliert werden.

Der sozialökonomische Inhalt des Gesetzes vom vorrangigen Wachstum der Produk­tion von Produktionsmitteln gegenüber der Produktion von Konsumtionsmitteln und die Art und Weise seiner Durchsetzung werden im Kapitalismus vor allem durch das Mehrwertgesetz sowie die Konkurrenz und die Anarchie der Produktion bestimmt.79 Das vorrangige Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln ist dem Mehrwertstreben, der Kapitalverwertung, unterworfen. Wie jedes andere ökonomische Gesetz des Kapitalismus setzt es sich spontan und anarchisch als eine sich realisierende Tendenz durch. Unbedingt ist der Hinweis von Engels zu beachten, daß überhaupt alle ökonomischen Gesetze „keine andre Realität als in der Annäherung, der Tendenz, im Durchschnitt, aber nicht in der unmittelbaren Wirklichkeit“ haben, was auch daher kommt, „daß ihre Aktion von der gleichzeitigen Aktion andrer Gesetze durchkreuzt wird“.80

Das ist auch bei der Untersuchung der Wachstumsbeziehungen zwischen den beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion zu beachten. Die Aufdeckung des gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen dem Wachstum beider Abteilungen setzt eine proportionale Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf die einzelnen Zweige und Bereiche der kapitalistischen Produktion voraus. Die kapitalistische Realität ist aber durch Disproportionalität gekennzeichnet, die durch die Anarchie der kapitalistischen Produktion bedingt ist. Lenin betont, „daß Proportionalität (oder Übereinstimmung) von der Theorie ‚vorausgesetzt‘ wird, daß sie jedoch in Wirklichkeit ,ständig gestört‘ wird“81.

Lenin entwickelte das Marxsche Reproduktionsschema der erweiterten Reproduk­tion unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts weiter und knüpfte an das Zahlenbeispiel von Marx an.82 Dabei ist stets der Leninsche Hinweis zu beachten, den er in einer Polemik gibt: „Schemata an und für sich können nichts beweisen; sie können nur einen Prozeß illustrieren, wenn dessen Elemente theoretisch klargestellt sind.“83

Unter der Voraussetzung, daß die kapitalistischen Unternehmer der Abteilung I die Hälfte ihres erzielten Mehrwerts von 500 in 450 zusätzliches konstantes Kapital und 50 in zusätzliches variables Kapital und die Kapitalisten von II ihren Mehrwert von 750 in zusätzliches 50c und 10v (bei einem verbleibenden Mehrwert von 690 für ihre individuelle Konsumtion) verwandeln und daß eine Mehrwertrate von 100 Prozent
erzielt wird, ergibt sich eine veränderte höhere organische Zusammensetzung des Kapitals beziehungsweise eine andere wertmäßige und gebrauchswertmäßige Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts.84

I. 4450 c +  1050 v +  (500 m) = 6000
II. 1550 c +  760 v +  (690 m) = 3000

Auf dieser Grundlage wird im zweiten Jahr (wieder eine gleichbleibende Mehrwertrate vorausgesetzt) ein gesellschaftliches Gesamtprodukt mit folgender Struktur produziert:

I. 4450 c +  1050 v +  1050 m = 6550
II. 1550 c +  760 v +  760 m = 3070

Die Produktion von Produktionsmitteln erhöhte sich um 9 Prozent, die Produktion von Konsumtionsmitteln demgegenüber um 2 Prozent.

Nach erneuter Akkumulation in beiden Abteilungen wird von der folgenden neuen Grundlage aus weiter produziert:

I. 4950 c +  1075 v +  (525 m) = 6550
II. 1600 c +  770 v +  (700 m) = 3070

Das im dritten Jahr erzeugte gesellschaftliche Gesamtprodukt hat folgende Struktur:

I. 4950 c +  1075 v +  1075 m = 7100
II. 1600 c +  770 v +  770 m = 3140

Die Produktion von Produktionsmitteln vergrößerte sich um 8 Prozent, die Produktion von Konsumtionsmitteln wieder um 2 Prozent und so weiter.

In einer zusammenfassenden Tabelle vergleicht Lenin das Wachstumstempo des gesellschaftlichen Gesamtprodukts mit dem Wachstum seiner einzelnen Teile (in Prozent)85:

  Produktionsmittel
für Abteilung I
Produktionsmittel
für Abteilung II
Konsumtions-
mittel
Gesellschaftliches
Gesamtprodukt
1. Jahr 100,00 100,00 100 100
2. Jahr 111,25 105,00 102 107
3. Jahr 123,75 107,50 104 114
4. Jahr 136,70 109,50 106 120

Aus seinen Untersuchungen zieht Lenin zwei Schlußfolgerungen. Die erste lautet, daß sich „ein schnelleres Wachstum der Produktionsmittel gegenüber dem der Konsumtionsmittel“86 ergibt bei kapitalistischer erweiterter Reproduktion und sich verändernder organischer Zusammensetzung.

Damit formuliert Lenin als erster dieses ökonomische Gesetz. Er betont, daß diese Erkenntnis unmittelbar mit der Tatsache zusammenhängt, daß die kapitalistische Produktionsweise „im Vergleich mit früheren Zeiten eine unermeßlich höher entwickelte Technik hervorbringt“.87 Demzufolge könnte man zu dieser Erkenntnis „auch ohne die Marxschen Untersuchungen in Band II des ,Kapitals‘ auf Grund des Gesetzes gelangen, daß das konstante Kapital die Tendenz hat, schneller zu wachsen als das variable: die These vom schnelleren Wachstum der Produktionsmittel ist bloß eine andere, auf die gesellschaftliche Gesamtproduktion bezogene Fassung dieses Gesetzes … Der ganze Sinn und die ganze Bedeutung dieses Gesetzes vom schnelleren Wachstum der Produktionsmittel besteht ja nur darin, daß die Ersetzung von manueller Arbeit durch maschinelle Arbeit – überhaupt der technische Fortschritt bei maschineller Industrie – eine verstärkte Entwicklung der Industriezweige erfordert, die Kohle und Eisen, diese ausgesprochenen ‚Produktionsmittel für Produktionsmittel‘, gewinnen.“88

Die zweite Schlußfolgerung lautet, daß innerhalb der Abteilung I die Produktion von Produktionsmitteln für die Abteilung I schneller wachsen muß als die Produktion von Produktionsmitteln für die Abteilung II oder daß sich die Abteilung Ia schneller entwickeln muß als die Abteilung Ib. Das ist eine notwendige Schlußfolgerung aus dem schnelleren Wachstum der Abteilung I gegenüber der Abteilung II. „Am schnellsten wächst die Produktion von Produktionsmitteln für Produktionsmittel, dann die Produktion von Produktionsmitteln für Konsumtionsmittel und am langsamsten die Produktion von Konsumtionsmitteln.“89

Lenin entwickelt hier also, daß die Durchsetzung des technischen Fortschritts im Kapitalismus mit einem differenzierten Entwicklungstempo der einzelnen Abteilungen und Unterabteilungen sowie der jeweils dazu gehörenden Industriezweige und sonstigen Wirtschaftsbereiche entsprechend der Entwicklungsrichtung und dem Niveau des technischen Fortschritts verbunden ist. Es wachsen vor allem die Zweige, die ein rasches Wachstumstempo und eine Steigerung der Effektivität der gesamten gesellschaftlichen Produktion gewährleisten. Überdurchschnittlich schnell entwickelte sich vor allem die chemische Industrie, insbesondere die Produktion von Kunststoffen und Chemiefasern, die Elektrotechnik/Elektronik, die Elektroenergie, der Fahrzeugbau und bestimmte Zweige des Maschinenbaus. Das sind Zweige, die auch für die Rüstung von entscheidender Bedeutung sind. Die industrielle Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, zum Beispiel auf den Gebieten der Datenverarbeitung, der Kybernetik und der Atomtechnik, ruft eine zusätzliche und wachsende Nachfrage nach Erzeugnissen bestimmter Bereiche der Abteilung I beziehungsweise der Industriegruppe A hervor.

Die Durchsetzung des Gesetzes der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln ist, wie bereits betont wurde, mit einer schnelleren Entwicklung, mit höheren Wachstumsraten der Produktion und mit höheren Akkumulationsraten der Abteilung I gegenüber der Produktion von Konsumgütern beziehungsweise der Abteilung II verbunden. Das führt dazu, daß sich der Anteil der Produktionsmittel (gebrauchswertmäßig und wertmäßig gesehen) am gesellschaftlichen Gesamtprodukt erhöht.90

Bei der Darstellung des Inhalts, des Wesens des Gesetzes vom vorrangigen Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln gegenüber der Produktion von Konsumtionsmitteln geht Lenin von der Entwicklung der Technik, der Produktivkräfte aus, die sich in widerspruchsvoller Wechselwirkung mit den herrschenden ökonomischen Verhältnissen, hier den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, durchsetzt. Es wird damit also ein allgemeiner Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Technik, der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen erfaßt, der in allen Produktionsweisen existiert. Das Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln gegenüber der Produktion von Konsumtionsmitteln ist daher ein allgemeines ökonomisches Gesetz. Entsprechend dem jeweiligen Charakter der Produktionsverhältnisse setzt es sich in einer bestimmten, historisch unterschiedlichen Erscheinungsform durch, mit unterschiedlichen sozialökonomischen Auswirkungen.91

Die erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals führt bei steigender organischer Zusammensetzung auch dazu, daß die Gebrauchswertmenge, die das gesellschaftliche Gesamtprodukt verkörpert, schneller als der Wert des gesellschaftlichen Gesamtprodukts zunimmt. Denn die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals bedeutet eine höhere Arbeitsproduktivität, und „jedes individuelle Produkt, für sich betrachtet, enthält eine geringere Summe von Arbeit als auf niedrigern Stufen der Produktion, wo das in Arbeit ausgelegte Kapital in ungleich größrem Verhältnis steht zu dem in Produktionsmitteln ausgelegten.“92