Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

5.3
Die Stellung der marxistisch-leninistischen
politischen Ökonomie zur
bürgerlichen Wachstumstheorie

Die bürgerliche Ökonomie behandelt Probleme des Reproduktionsprozesses vor allem im Rahmen der Theorie des ökonomischen Wachstums. Diese Theorie ist seit nunmehr mehr als einem halben Jahrhundert ein entscheidender Bestandteil der bürgerlichen politischen Ökonomie.

Die Vertiefung des Grundwiderspruchs des Kapitalismus zwingt die Verteidiger des Kapitals, nach Mitteln und Möglichkeiten zu suchen, um ein schnelles und stetiges wirtschaftliches Wachstum zu erreichen und zu sichern.

Bereits im Jahre 1957 schrieb der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler E. D. Domar, ein Vertreter der bürgerlichen Wachstumstheorie: „Das derzeitige Interesse an den Problemen des Wachstums … ist durch den internationalen Konflikt … hervorgerufen, unter dessen Bedingungen man ohne Wachstum nicht am Leben bleiben kann … Unter normalen Bedingungen kann man müßige Gespräche für und gegen das Wachstum führen, heute jedoch, wo … ein Teil der Welt energisch und sehr erfolgreich ein rasches Wachstum betreibt, kann der andere Teil dieses Ziel nur dann vernachlässigen, wenn er der eigenen Existenz als Gesellschaftsordnung überdrüssig geworden ist.“105

Die bürgerliche Wachstumstheorie ist eine apologetische Darstellung ökonomischer Erscheinungen und Prozesse im Kapitalismus. Sie abstrahiert vom kapitalistischen Charakter des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Entscheidende qualitative Probleme – wie die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalistenklasse, die zunehmende Monopolisierung und Militarisierung usw. –, die sich grundsätzlich aus dem privatkapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln ergeben, werden ignoriert. Die fast ausschließlich quantitative Bestimmung des Wachstumsziels als Zuwachs an Produktion, Waren, Dienstleistungen und Einkommen soll von so typischen Merkmalen der kapitalistischen Reproduktion wie der gesamtgesellschaftlichen Anarchie, der Disproportionalität und den zyklischen Krisen sowie der damit verbundenen Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit usw. ablenken helfen. Es soll der Eindruck erweckt werden, als sei im Kapitalismus ein ununterbrochenes und proportionales Wachstum erreichbar. Aber infolge des antagonistischen Widerspruchs zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse kann es im Kapitalismus kein einheitliches gesellschaftliches Gesamtinteresse geben, auf dessen Grundlage gemeinsame Wachstumsziele festgelegt und realisiert werden könnten.

Die bürgerliche Wachstumstheorie hat jedoch nicht nur eine wichtige ideologische oder Manipulierungsfunktion zu erfüllen, sondern sie soll auch bestimmte Voraussetzungen für die staatliche Wirtschaftspolitik im Hinblick auf die Stimulierung des Wachstums erfüllen. Diese Wachstumspolitik dient sowohl der aktiven Unterstützung der Monopole bei der Kapitalverwertung wie auch der Erhaltung des imperialistischen Gesellschaftssystems.106 Es werden also Ziele verfolgt, die den Interessen der Arbeiterklasse und der gesamten Bevölkerung widersprechen.

Die Monopolbourgeoisie will mittels des ökonomischen Wachstums bestimmte ökonomische, politische und militärische Ziele durchsetzen, das heißt das ökonomische Potential erweitern und Voraussetzungen für die Realisierung innen- und außenpolitischer Ziele schaffen. In den Maßnahmen zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums der imperialistischen Staaten zeigt sich das Wirken der sozialökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus.

Die bürgerliche Wachstumstheorie unterscheidet sich prinzipiell von der marxistisch-leninistischen Reproduktionstheorie. Die Reproduktionstheorie behandelt die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals beziehungsweise des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, was die Zirkulation zwischen den verschiedenen Produktionssphären und zwischen den Klassen einschließt. Sie hat damit die gebrauchswertmäßige wie die wertmäßige Zusammensetzung des Produkts zu berücksichtigen. „Die bürgerliche Wachstumstheorie dagegen interessiert sich weder für die Zirkulation und die Verteilung des Gesamtprodukts auf die verschiedenen Klassen noch für das Problem der stofflichen und wertmäßigen Zusammensetzung des Produkts. In ihrem Mittelpunkt stehen lediglich einige Reproduktionsbeziehungen, die für die Zunahme des Gesamtprodukts relevant sind, d.h., die bürgerliche Wachstumsforschung untersucht nur einige für das Wirtschaftswachstum wesentliche Aspekte der Reproduktion. Daher kann man sagen, daß die bürgerliche Wachstumstheorie zwar den Versuch darstellt, von der Position der bürgerlichen Ökonomie aus einige Reproduktionsbeziehungen im modernen Kapitalismus zu untersuchen, ohne jedoch den Prozeß der Produktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals mit allen seinen Aspekten und Widersprüchen zu erfassen, ohne also den Ansprüchen einer Reproduktionstheorie zu genügen.“107

Die bürgerliche Wachstumstheorie durchlief mehrere Entwicklungsetappen, die – jede auf ihre Weise – den allgemeinen krisenhaften Zustand des Kapitalismus und die Krise der bürgerlichen Ökonomie widerspiegeln.

In der ersten Etappe, die sich über die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts erstreckte und die die Weltwirtschaftskrise einschloß, wurden von solchen bürgerlichen Ökonomen wie J. Schumpeter und vor allem von J. M. Keynes bestimmte theoretische Voraussetzungen für die Herausbildung der Wachstumstheorie geschaffen. Auf diese Etappe folgte etwa ab 1938/1939 eine zweite, in der auf der Grundlage der vulgären keynesianischen Theorie und bei Überwindung einiger ihrer Beschränktheiten von dem Amerikaner E. D. Domar und dem Engländer R. Harrod die erste, sogenannte nachkeynesianische Wachstumstheorie begründet wurde. Diese Theorie fand allerdings erst nach dem zweiten Weltkrieg Verbreitung. Dazu trugen mehrere Faktoren bei, in erster Linie die hohen Wachstumsraten in den sozialistischen Ländern, der Systemwettbewerb und teilweise auch das zeitweilig relativ rasche ökonomische Wachstum in einigen kapitalistischen Ländern.

Angesichts der damaligen ökonomischen Erfolge der Länder des Sozialismus verstärkte sich in der Monopolbourgeoisie die nach der großen Weltwirtschaftskrise entstandene Unsicherheit in bezug auf die Perspektive des Kapitalismus. Es wurde zu einer wichtigen Aufgabe der bürgerlichen Ökonomie, und darin äußert sich auch ihre ideologische Funktion, das bürgerliche Perspektivbewußtsein zu erneuern und Pseudooptimismus zu verbreiten. Diese Aufgabe sollte vornehmlich die Wachstumstheorie erfüllen. Ein weiteres Ziel der Monopolbourgeoisie und ihrer Ideologen bestand darin, durch ökonomisches Wachstum günstige Voraussetzungen für die Beeinflussung der Werktätigen zu schaffen und so auch auf diese Weise Klassenauseinandersetzungen zu verhindern, die das kapitalistische System gefährden.

Die nachkeynesianische Wachstumstheorie erfaßt mit ihren Modellen bestimmte funktionale Abhängigkeiten, zum Beispiel zwischen Investitionen und Wachstum beziehungsweise zwischen Akkumulation und erweiterter Reproduktion, also Beziehungen, die bereits in der marxistischen Reproduktionstheorie enthalten sind und von dieser wissenschaftlich geklärt wurden. Deshalb sind auch die Versuche bürgerlicher Ökonomen, Marx in die Geschichte der bürgerlichen Wachstumstheorie einzubeziehen, unhaltbar. Marx ging es bei seiner Reproduktionstheorie um ganz andere Probleme als den heutigen bürgerlichen Wachstumstheoretikern. Will die bürgerliche Wachstumstheorie zum Beispiel die Bedingungen für ein „optimales“ Wirtschaftswachstum feststellen und Krisen vermeiden helfen, so ging es Marx „um die Lösung des Problems, wieso trotz der von ihm nachgewiesenen objektiven Widersprüche das kapitalistische System immer wieder ins Gleichgewicht gebracht und damit am Funktionieren erhalten werden kann, welche Bedingungen die ebenfalls objektive Grundlage dafür bilden. Diese Feststellung führte zur Darstellung jener Gleichgewichtsbedingungen, die in den Reproduktionsschemata entwickelt sind. Das Hauptproblem bestand darin, wie trotz kapitalistischer Produktion die Realisierung des Gesamtprodukts möglich ist und tatsächlich auch erfolgt.“108

Die bürgerliche Wachstumstheorie ist auch deshalb mit der marxistisch-leninistischen Reproduktionstheorie nicht identisch, da sie auf der vulgären Produktionsfaktorentheorie beruht und damit die Existenz von Ausbeutung und Mehrwertproduktion verschleiert und ignoriert. Im Unterschied zur bürgerlichen Produktionsfaktorentheorie und zur bürgerlichen Ökonomie überhaupt umfaßt die marxistisch-leninistische Reproduktionstheorie auch die Produktion und Realisierung des Mehrwerts. Sie macht ferner die antagonistischen Widersprüche sichtbar, über die sich die Realisierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts vollzieht, wodurch der zyklische Charakter der kapitalistischen Wirtschaft hervorgerufen wird.

Auf diese zweite Entwicklungsetappe der bürgerlichen Wachstumstheorie folgte etwa Mitte der fünfziger Jahre eine dritte Etappe, die sogenannte neoklassische Wachstumstheorie. R. Solow, J. Meade und andere neoklassische Wachstumstheoretiker analysierten vor allem die einzelnen Wachstumsfaktoren und deren Einfluß auf die ökonomische Entwicklung. Durch die Herausstellung der verschiedenen Wachstumsfaktoren und die Anwendung erweiterter Modelle bildet die neoklassische Wachstumstheorie eine günstigere Grundlage für die staatsmonopolistische Wirtschaftspolitik als die nachkeynesianische Variante.

In den fünfziger Jahren galten in der Hauptsache Arbeitskräfte und Investitionen als Wachstumsfaktoren. Aus ihrer Expansion oder Kontraktion wurden ökonomisches Wachstum oder Stagnation erklärt. In neuerer Zeit werden in einer differenzierten Weise weitere Faktoren, wie zum Beispiel Wissenschaft, Bildung und Struktureffekte, als Wachstumsfaktoren quantitativ erfaßt, wobei bestimmte Beziehungen zwischen diesen Faktoren dargestellt werden. Diese vierte Entwicklungsphase der bürgerlichen Wachstumstheorie bildet einen weiteren Versuch, aus politisch-ökonomischen
Gründen die Wachstumspolitik effektiver zu gestalten.

Ein gleichmäßiges und störungsfreies Wachstum konnte dennoch nicht gesichert werden. Im Gegenteil, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre spitzten sich ökonomische, politische und soziale Widersprüche des Kapitalismus weiter zu. Klassengegensätze und Klassenkämpfe verschärften sich. Deutlicher als bisher wurde sichtbar, daß die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins für alle Mitglieder der Gesellschaft primär von den Eigentums- und Machtverhältnissen und nicht vom Wirtschaftswachstum abhängt.

Auf diesem Hintergrund zeichnet sich eine neue Entwicklungsetappe der bürgerlichen Wachstumstheorie ab. Sie wird durch eine massive Kritik am Wachstumsdenken aus den eigenen Reihen charakterisiert. Bei vielen bürgerlichen Wissenschaftlern zeigt sich ein großes Unbehagen über die Erscheinungen und Konsequenzen des Wachstums, das seit mehreren Jahrzehnten an erster Stelle der wirtschaftspolitischen Ziele der imperialistischen Länder stand.

Der früheren einhelligen Wachstumsbegeisterung ist, wie es der Ökonom G. Bombach formulierte, „eine Zeit der Besinnung gefolgt“. Diese Besinnung führt zu zahlreichen kritischen Schlußfolgerungen, die bis zu der Forderung reichen, das Wachstum in der Prioritätsskala weit zurückzustufen und im Extrem sogar einen teilweisen Rückgang der Produktion hinzunehmen.

Diese Veränderung im Verhalten zum Wirtschaftswachstum resultiert aus der allgemeinen Krisensituation, in der sich das kapitalistische System befindet. Außerdem spielt die Tatsache eine Rolle, daß die von den imperialistischen Staaten proklamierten Wachstumsziele auf die Dauer nicht erreicht wurden und daß immer deutlicher solche mit dem Wachstum der kapitalistischen Mehrwertproduktion verbundenen negativen Erscheinungen sichtbar wurden. Der Kapitalismus wird mit den Problemen und Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht fertig. Wachsende Disproportionen und Fehlentwicklungen führen zur Ausweitung und Vertiefung sozialer Spannungen und Klassengegensätze.

Aber ebenso wie ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum nicht zur Lösung oder Minderung der kapitalistischen Widersprüchlichkeit führt, sondern zu einer Reproduktion der Widersprüche auf neuer Ebene in verschärfter Gestalt, so bedeutet auch eine Begrenzung des Wachstums keinen Ausweg für den Kapitalismus, denn die Einstellung des industriellen Wachstums im Kapitalismus bedeutet die Beendigung der Kapitalakkumulation, d. h. der Kapitalisierung eines Teils des Mehrwerts zwecks Produktion von immer größerem Mehrwert, anders ausgedrückt, die Aufhebung des allgemeinen, absoluten Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation bei unangetasteter Aufrechterhaltung der Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise.

Der Kapitalismus kann aber ohne Kapitalakkumulation nicht existieren. Denn das Ziel der kapitalistischen Produktionsweise ist die Produktion und Aneignung eines wachsenden Mehrwerts, und das Mittel, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll, ist die steigende Ausbeutung auf der Grundlage der Ausdehnung und Modernisierung der Produktion. Die Lösung der Reproduktionsprobleme im Interesse der Arbeiterklasse setzt daher die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse voraus. Marx schreibt, daß in der kommunistischen Gesellschaftsformation „der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen“, und daß die Produzenten diesen Stoffwechsel „mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn“.109

Eine kritische Einschätzung der bürgerlichen Wachstumstheorie ergibt somit, daß durch diese Theorie, ebenso wie durch die bürgerliche Ökonomie insgesamt, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die dialektischen Wechselbeziehungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen apologetisch entstellt werden. Diese Theorie betrachtet ökonomisches Wachstum, also erweiterte Reproduktion, losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen, stellt die Produktivkräfte als dominierend dar und erfaßt nur bei Teilaspekten, aber insgesamt in verzerrter Form das Verhältnis von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften.

Die bürgerliche Wachstumstheorie stellt den Wachstumsprozeß im allgemeinen glatt und widerspruchsfrei dar, obwohl es im Kapitalismus ein solches Wachstum nicht gibt. Sie beachtet bei ihrer Analyse des wirtschaftlichen Wachstums nicht die Widersprüche des kapitalistischen Systems. Sie vernachlässigt wichtige systemeigene Wachstumshemmnisse oder erörtert nur „logisch mögliche“ langfristige Wachstumsstörungen. Entscheidend bleibt, daß eine bewußte gesamtgesellschaftliche Lenkung des Reproduktionsprozesses im Kapitalismus prinzipiell unmöglich ist.