RotFuchs 218 – März 2016

A. S. Makarenko – Wegbereiter für
das sozialistisch-humanistische Erziehungsideal

Marianne Walz

Jean-Jacques Rousseau, geistiger Exponent eines fortschrittlichen humanistischen Ideals des 18. Jahrhunderts, präsentierte in seinem Roman „Émile“ Grundzüge einer gewaltfreien Menschen-Formung. Anders jedoch A. S. Makarenko (1888–1939): Er war ein sich leidenschaftlich seinem Beruf hingebener Lehrer und Erzieher und sah sich seit den 20er Jahren in der Sowjetunion gleichfalls in epochale Umwälzungen hineingestellt. Er erkannte, daß die ausbeutungsfreie Gesellschaft nur von sozialistischen Persönlichkeiten erbaut werden kann. Er stellte seine Botschaft in Romanform vor. Sie lautet: „Ich fordere dich, weil ich dich achte.“ Die Erzählung „Flaggen auf den Türmen“ beschreibt Makarenkos Erfahrung in der durch ihn geleiteten Kinderkolonie. Ausgangspunkt einer Erziehung zur Verantwortung, die der einzelne für sich und andere übernimmt, ist das sozialistische Arbeitskollektiv. Damit geht Makarenko weit über Rousseau und andere bürgerliche Reformpädagogen hinaus. Maxim Gorki gebührt das Verdienst, sowohl die pädagogischen als auch die literarischen Arbeiten Makarenkos inspiriert und gefördert zu haben.

Was Jean-Jacques Rousseau völlig abging, war A. S. Makarenko am wichtigsten: die pädagogische Praxis. Während sich der Begründer der humanistischen Erziehungslehre seinen Émile als einen einzelnen, ausgesucht begabten, unverbildeten und wohlgestalten Knaben vorstellte, nahm sich Makarenko Hunderter verwahrloster, straffällig gewordener Jugendlicher an, wobei er sich selbst bis an die Grenzen forderte. Seine Aufgabe war gigantisch. Hunderttausende familiengelöste, obdachlose Jugendliche – die meisten infolge der Interventionskriege gegen die Sowjetunion sozial völlig entwurzelt – durchstreiften Städte und Landstriche, viele von ihnen in kriminellen Banden, fast alle verlassen und heruntergekommen.

Buchumschlag: Ernst Jazdzewski (Aufbau-Verlag, Berlin 1953)

Makarenkos Ziel war nicht allein gutherzig-karitativ. In der Kolonie „Maxim Gorki“ wollte er den jungen Dieben und Räubern, Bettlern, Straßendirnen und Landstreichern eine Perspektive als mitgestaltende Bürger des Sowjetstaates vermitteln. Im Roman heißt der verantwortliche Leiter des Pädagogen-Kollektivs Alexej Stepanowitsch Sacharow, und das Wohngebäude der Kommune „Erster Mai“ trägt tatsächlich Flaggen auf den Türmen. Sacharow reflektiert: „Kein Nachlassen, keinen Tag der Demoralisierung, keinen Augenblick der Kopflosigkeit!“ Drei seiner Zöglinge, die Helden des Romans, haben wie fast alle Kolonisten eine delinquente Vorgeschichte. Der sechzehnjährige Igor Tscher-njawin, Sproß aus intellektueller Familie mit ausgeprägter Arbeitsscheu, fälschte Geldanweisungen, welche die gleichaltrige Wanda Stadnitzkaja als Prostituierte für ihren Bandenchef angeschafft hatte; Grischa Ryshikow schlug sich als skrupelloser Dieb durch.

Der zwölfjährige elternlose Wanja Galtschenko hingegen erwarb seinen Lebensunterhalt „ehrlich“. Doch der kleine Schuhputzer, von Tschernjawin, Ryshikow und anderen Ganoven bestohlen, hintergangen und ausgenutzt, gilt der zuständigen Behörde weder als Rechtsbrecher noch als Verwahrloster. Deshalb verweigern ihm Bürokraten die Aufnahme in die Kolonie. Doch Wanja schafft es, zu Sacharow vorgelassen zu werden. Das Kollektiv der Kommunarden mit seinem höchsten Organ, dem Rat der Brigadiere, berät und entscheidet, Wanja Galtschenko aufzunehmen. Der Junge genießt die ungewohnte Sauberkeit, Schönheit und Ordnung, die ihn von nun an umgibt – sowohl in den Räumen, bei der Kleidung und in den Gartenanlagen als auch in den Beziehungen zu den Genossinnen und Genossen. Spiele, Theater, Orchester, Sportwettkämpfe und Feste geben den Wochen und Monaten einen klaren, frohen Rhythmus – „den Dur-Ton unseres neuen Lebens“, wie ihn Sacharow erstrebt.

Die Kommune ist selbstverwaltet, die Tage sind strukturiert mit vormittäglichem Unterricht und nachmittags vier Stunden altersgerechter produktiver Tätigkeit auf dem Feld, in der Gießerei oder den Werkstätten der Kolonie. Dabei arbeiten die Mädchen und Jungen anfangs für den Eigenbedarf ihrer Kommune, später auch für die Erfüllung des Fünfjahrplans. Am Tag des Erreichens eines wirtschaftlichen Überschusses werden die Kommunarden zu Miterbauern des Sozialismus und feiern ein Fest. Betriebsleiter Solomon Dawidowitsch Blum, der die Einnahmen der Gießerei verwaltet, legt alle Daten offen. Und die wachsenden Ersparnisse regen die Kollektivmitglieder an, ihre maroden Produktionsmittel nicht nur zu reparieren, sondern eine moderne Fabrik zu erbauen, Kredite und fachliche Hilfe anzunehmen. Die Verwirklichung dieses Plans bringt der Kommune „Erster Mai“ einen ungeheuren Auftrieb.

Ein straffes Regelwerk von Pflichten und Rechten mit wechselnden Verantwortlichkeiten für die unterschiedlichen Funktionen gibt ihren Bewohnern Orientierung und Ansporn. Bei Regelverletzungen haben sich die Betreffenden vor dem jeweiligen Brigadier vom Dienst zu rechtfertigen, für schwerwiegendere Verstöße vor dem versammelten Kollektiv geradezustehen. Die Erzieher begleiten die Diskussionen einfühlsam und greifen in schwierigen „Verhandlungen“ stets zugunsten des Zöglings ein. Auf diese Weise findet zum Beispiel Igor Tschernjawin ins Arbeitskollektiv. Und Wanda Stadnitzkaja erkennt als Kommunardin die Würdelosigkeit ihres Vorlebens, weiß aber von kompromittierenden Notizen in ihrer Akte. Lange verharrt sie in Scham und depressiver Schwermut. Doch Alexej Stepanowitsch Sacharow erklärt ihr, daß er das Dokument ungesehen weggeschlossen habe, denn nur das neue Leben zähle. Er läßt sie seine ganze Zuwendung nachhaltig spüren. Das Mädchen gesundet seelisch und moralisch.

Sacharow und seine Mitstreiter fordern Leistung und Disziplin. Ihre Vertrauenskredite vergeben sie stets in voller Höhe, und das pädagogische Risiko ist ihnen bewußt. Zu den Erfolgen kommen Enttäuschungen. So bei Grischa Ryshikow. Er mißachtet, bestiehlt und belügt seine Genossen, lenkt den Verdacht geschickt auf andere, nimmt weder die zweite noch die dritte, vierte und fünfte Chance wahr. Schließlich muß er auf Ratsbeschluß die Kolonie verlassen und wird der zuständigen Behörde – dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten – überstellt.

Makarenko gab 1937 die Leitung der Kinderkolonie ab, um als freier Autor seine Erfahrungen niederzuschreiben. Tausende angehende Lehrerinnen und Lehrer in der Sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR haben seine Werke als Grundlagenliteratur studiert und danach gehandelt.

Zur historischen Wahrheit gehört, daß sich in der UdSSR um das Jahr 1938 – also noch zu Makarenkos Lebzeiten – schwerwiegende innenpolitische Fehlentwicklungen vollzogen. Sie standen in krassem Gegensatz zu den sozialistisch-humanistischen Prinzipien, wie sie die Klassiker des Marxismus-Leninismus lehrten und Menschen wie Makarenko praktizierten.