RotFuchs 236 – September 2017

Albert Schweitzer:
Warnung vor einem Atomkrieg (1958)

Albert Schweitzer

Albert Schweitzer

Leider ist die Gefahr, daß der kalte Krieg in einen Atomkrieg übergeht, heute viel größer als je zuvor. Sie hat ihren Grund in dem Aufkommen der ferngelenkten Raketengeschosse und den durch sie gegebenen Mög­lichkeiten. In vergangenen Zeiten hat Amerika zum Prinzip gehabt, neben der Sowjetunion allein im Besitz von Atomwaffen zu bleiben. Es hatte kein Interesse, andere Staaten mit Uran- und Wasserstoffbomben auszustatten. … Durch das Aufkommen von fernge­lenkten Raketengeschossen von kleinerer und größerer Reichweite ändert sich aber die Lage. So geht Amerika vom Dogma ab, keine Atomwaffen in andere Hände zu geben. Ein folgenschwerer Entscheid … Nunmehr sind die bisher nicht vorhandenen Voraussetzungen für einen zwischen Amerika und der Sowjetunion auf europäischem Boden mit Atomwaffen zu führenden Landkrieg gege­ben. Von Westdeutschland aus kann das Gebiet der Sowjetunion durch ferngelenkte Mittelstreckenraketen bis zu 2400 Kilometer Reichweite, bis Moskau und Charkow hin, beschossen werden … So kann sich die Sowjetunion in der Lage fühlen, ein gegen sie, auf Grund des Vorhandenseins von Raketengeschossen, unternommenes Einkrei­sungsmanöver abwehren zu müssen … Die durch das Aufkommen von atomaren Rake­tenwaffen gesteigerte Kriegsgefahr wird größer noch dadurch, daß der Atomkrieg wohl kaum auf Grund einer Kriegserklärung von seiten einer Atommacht statthaben, sondern durch irgendein Vorkommnis zufällig zum Ausbruch kommen wird. Schuld daran ist die nunmehr dem Faktor Zeit zukommende Bedeutung. Der plötzlich An­greifende wird sich dem Angegriffenen gegenüber in einem Vorteil befinden, der ihm eine fast den Sieg bedeutende Überlegenheit verleiht. Er wird ihm ermöglichen, dem Gegner gleich zu Anfang Verluste beizubringen, die dessen Kampffähigkeit außeror­dentlich herabsetzen.

So fühlt man sich hüben und drüben genötigt, des Überfalls täglich und stündlich gewärtig zu sein, um ihn durch eine augenblicklich erfolgte kraftvolle Abwehr soviel wie möglich zu vereiteln. Diese Nötigung schnellster Abwehr ist es, welche die große Gefahr des zufälligen Ausbruchs eines Atomkrieges in sich trägt. Bei der Schnellig­keit, mit der entschieden werden muß, was das auf dem Radarschirm sichtbar Wer­dende bedeutet, ist die Möglichkeit eines verhängnisvollen Irrtums gegeben, der unter Umständen den Ausbruch eines Atomkrieges zur Folge haben kann.

Dem amerikanischen General Curtis Le May zufolge muß man ernstlich mit dieser Möglichkeit rechnen. Tatsächlich befand sich die Welt vor kurzem in einer solchen Gefahr. Die Radarstation der amerikanischen Luftwaffe und die der amerikanischen Küste meldeten miteinander, daß Geschwader unbekannter Bomber mit Überschall­geschwindigkeit auf Amerika zukämen. Daraufhin hätte der General, der das strate­gische Bomberkommando befehligte, alsbald die Bomber zur Vergeltungsbombardie­rung starten lassen müssen. Er konnte sich aber nicht dazu entschließen, womit er eine schwere Verantwortung auf sich nahm. Kurz darauf stellte es sich heraus, daß die Radarstationen einem technischen Irrtum zum Opfer gefallen waren. Was hätte geschehen können, wenn ein weniger besonnener General an seiner Stelle gewesen wäre! In der nächsten Zeit wird die Gefahr eines durch Irrtum verursachten Atom­kriegs noch größer sein …

Eine merkwürdige Haltung in der Frage des Verzichts auf Atomwaffen nimmt Amerika ein. Es kann nicht anders, als aus Überzeugung für deren Abschaffung eintreten. Zu­gleich aber will es für den Fall, daß dies nicht Tatsache wird, sich, zusammen mit den Ländern der NATO, in einer möglichst günstigen militärischen Situation befinden. Darum dringt es darauf, daß diese sich entschließen, die Raketengeschosse, die es ihnen anbietet, möglichst bald anzunehmen. Es will weiterhin imstande sein, den Frieden durch Abschreckung des Gegners aufrechtzuerhalten. Dabei muß es die Erfahrung machen, daß die meisten NATO-Staaten keine große Eile zeigen, sich die angebotenen Waffen zu eigen zu machen. Sie haben nämlich mit einer bei ihnen immer stärker werdenden öffentlichen Meinung zu rechnen, die dafür nicht zu haben ist. Es wäre von großer Bedeutung, wenn Amerika in dieser Schicksalsstunde der Menschheit sich entschließen könnte, einzig an die Notwendigkeit des Verzichts auf Atomwaffen und an die nur dadurch ermöglichte Vermeidung eines Atomkrieges zu denken. Die Theorie der Aufrechterhaltung des Friedens durch Abschreckung des Gegners vermittelst atomarer Aufrüstung kann für die heutige Zeit der so gestei­gerten Kriegsgefahr nicht mehr in Betracht kommen …

Aus dem zweiten Appell Albert Schweitzers zur Überwindung der Gefahr eines Atomkrieges