RotFuchs 225 – Oktober 2016

Als der „rote Kutscher“
seine Kollegen organisierte

Hans-Kai Möller

Vor gut 130 Jahren erblickte Ernst Thälmann in Hamburg das Licht der Welt. Er wurde während der Weimarer Republik als langjähriger Vorsitzender der KPD zu einem der wichtigsten Repräsentanten der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Über seine Leistungen, aber auch seine Irrtümer und Fehler während dieser Zeit ist viel publiziert worden. Deutlich weniger Beachtung fand Thälmanns steiniger Weg aus dem strengen, kleinbürgerlichen Elternhaus in die Hamburger Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg.

Hamburger Wäscherei-Kastenwagen, um 1914 / Foto: Gebr. Schütt

Hamburger Wäscherei-Kastenwagen, um 1914 / Foto: Gebr. Schütt

Thälmanns Eltern eröffneten 1895 einen Gemüse- und Lebensmittelladen im Hamburger Stadtteil Eilbeck. Als sie sich ein Pferd anschaffen konnten, betrieben sie zusätzlich ein kleines Kohlen- und Transportgeschäft. Der junge Ernst mußte von nun an täglich nach der Schule im Betrieb mithelfen. Obwohl er ein sehr wißbegieriger Schüler war, erhielt er von den Eltern nur wenig Anregung und Unterstützung. In seiner äußerst knapp bemessenen Freizeit nutzte er fast jede freie Minute zum Lesen. Erwischte ihn sein Vater dabei, bekam er häufig eine Tracht Prügel. Trotz dieser so ungünstigen Verhältnisse erhielt der Junge gute Noten und wurde nach dem regulären Volksschulabschluß in die „Selekta“ übernommen. In diesen Sonder-Klassen wurden in Hamburg die besten Absolventen eines Abschlußjahrganges zusammengefaßt und noch ein Jahr lang von Fachlehrern unterrichtet. Aber auch der erfolgreiche Abschluß der „Selekta“ konnte Ernsts Eltern nicht erweichen. Sie lehnten seinen sehnlichsten Wunsch, ein Handwerk zu erlernen oder eine Lehrerausbildung zu absolvieren, kategorisch ab, obwohl sie beides hätten finanzieren können. Die Enttäuschung über diese Entscheidung der Eltern wirkte bei Thälmann noch lange nach.

Kurz nach seiner Schulentlassung, Ostern 1900, kam der junge Ernst erstmals mit der Sozialdemokratie in Kontakt. Sie hatte mit auffälligen roten Plakaten die schul­entlassene Jugend zu einer Feier im Gewerkschaftshaus eingeladen. Ablauf und Inhalt dieser Großveranstaltung beeindruckten den Jungen tief. Noch in seinem wahrscheinlich im März 1935 für die Verteidigung vor Gericht verfaßten Lebenslauf beschrieb er dieses Ereignis, das ihm die Tür zu einer neuen Welt geöffnet hatte, ausführlich und begeistert.

Die geistige Enge des Elternhauses wurde gerade nach diesem Erlebnis für ihn immer bedrückender. Ein Streit mit dem Vater wegen der schlechten Bezahlung im elterlichen Betrieb brachte das Faß zum Überlaufen, und so verließ er 1902 sein Zuhause.

Nach einer Aushilfstätigkeit als Bühnenarbeiter in dem noch heute auf der Reeperbahn existierenden St.-Pauli-Theater lernte Thälmann die besonders katastrophalen Arbeitsbedingungen von jugendlichen Tagelöhnern im Hamburger Freihafengebiet am eigenen Leibe kennen. Schnell merkte er, daß in den tariflich gebundenen Betrieben deutlich höhere Löhne gezahlt wurden und dort überwiegend gewerkschaftlich organisierte Arbeiter tätig waren. Diese Erkenntnisse veranlaßten ihn Anfang 1904, der Gewerkschaft beizutreten. Mitglied der Sozialdemokratie war er bereits im Vorfeld des Reichstagswahlkampfes 1903 geworden. Bald nach dem Eintritt in den Transportarbeiter-Verband erlebte er im Sommer 1904 als Beifahrer auf dem Flaschenbier-Pferdewagen einer Brauerei seinen ersten Streik.

In den Folgejahren nahm Ernst Thälmann selbst die Zügel in die Hand: Beruflich arbeitete er in verschiedenen Branchen als Kutscher. Gewerkschaftlich trat er u. a. auf drei Streikversammlungen der Sektion der Möbelkutscher im Transportarbeiter-Verband hervor. So setzte er sich mutig für eine offensive Lohnpolitik und die konsequente Weiterführung eines inzwischen begonnenen Arbeitskampfes ein. Diese Aktivitäten blieben natürlich auch der übereifrigen Hamburger Politischen Polizei nicht verborgen. Im September 1906 legte sie eine Akte über den aktiven Gewerkschafter und Sozialdemokraten an.

Als ungelernter Gelegenheitsarbeiter im Hafen hatte Thälmann, wie bereits erwähnt, die Arbeitsbedingungen der Jungarbeiter, die kaum organisiert waren, gründlich kennengelernt. Er regte deshalb in der Ortsverwaltung des Transportarbeiter-Verbandes an, gezielt für ihre Organisierung aktiv zu werden. Dieser Vorschlag stieß bei den hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären auf wenig Gegenliebe. Daraufhin versuchte es eine Gruppe junger Gewerkschafter auf Initiative von Thälmann auf eigene Faust und berief eine Arbeiterjugendversammlung der Hafenarbeiter ins Gewerkschaftshaus ein. Knapp 700 Jungarbeiter strömten in die Wandelhalle. Über 200 von ihnen traten sofort der Gewerkschaft bei. Der Antrag, eine eigene Jugendsektion des Transportarbeiter-Verbandes zu gründen, fand eine große Mehrheit. Erster Vorsitzender dieser Sektion wurde Ernst Thälmann. Mit 22 Jahren war er das jüngste Mitglied der Ortsverwaltung des Verbandes. Im folgenden Jahr, 1909, wählten ihn seine Berufskollegen außerdem zum zweiten Vorsitzenden der Sektion Kutscher aller Branchen.

Beruflich arbeitete er nun als Wäschereikutscher. Den Arbeitsalltag dieser speziellen Berufsgruppe stellte er 1911 in einem Aufruf in der SPD-Tageszeitung „Hamburger Echo“ kurz und anschaulich dar: „Den ganzen Tag treppauf, treppab bis in die sinkende Nacht hinein, im Sommer schweißtriefend, kein trockener Faden am Leibe, wieder auf den Kutschbock. Das ist so ungefähr das keineswegs beneidenswerte Los der Wäschereikutscher. Eine Arbeitszeit von 14 bis 16 Stunden ist an der Tagesordnung. Es ist keine Seltenheit, daß man nachts um 11 Uhr noch Wäschereikutscher auf der Straße sieht …“

Derartige Arbeitsverhältnisse gehörten bei der Wäscherei Gustav Welscher in Wandsbek bei Hamburg, bei der Thälmann seit Sommer 1909 arbeitete, bald der Vergangenheit an, weil es dem „roten Kutscher“ gelang, alle Arbeiterinnen und Arbeiter des Betriebes zu organisieren. Welscher war nun eine Art „Musterbetrieb“ unter den Wäschereien Hamburgs und überall bekannt. So wurde dort der höchste Tariflohn der Branche gezahlt. Urlaubstage wurden für alle Beschäftigen tariflich festgelegt. Der Wäschereibesitzer erkannte schnell Thälmanns organisatorisches Geschick und machte ihn bald zum Expedienten. Wenig später bot Welscher ihm sogar die Stelle des Geschäftsführers an, aber nur wenn er seine Gewerk­schafts­arbeit aufgebe. Thälmann ließ sich jedoch nicht korrumpieren und lehnte das Angebot dankend ab. Zwei Monate später wechselte er als Kutscher zu einer Großwäscherei mit dem schönen Namen „Frauenlob“. Auch hier gelang es ihm in mühseliger Kleinarbeit, die Belegschaft vollständig zu organisieren. Durch einen betrieblichen Streik wurden u. a. eine Lohnerhöhung und bessere Arbeitsverhältnisse durchgesetzt.

Bei „Frauenlob“ fand Thälmann auch sein persönliches Glück. Hier lernte er seine spätere Ehefrau Rosa Koch kennen. Die junge Plätterin, die an der Heißmangel arbeitete, war mit ihm über gewerkschaftliche Fragen in Kontakt gekommen. Die Organisationserfolge bei den Großwäschereien Welscher und „Frauenlob“ strahlten bald auch auf andere Wäschereibetriebe Hamburgs aus. Dort wurden nun ebenso kräftige Lohnerhöhungen und tarifliche Urlaubstage erstritten.