RotFuchs 212 – September 2015

Vier schöne Jahre einer weißen Internationalistin
unter schwarzen Freunden

Als mich die DDR nach Guinea entsandte
(Teil 5)

Renate Teller

1. 3. 1975
Unter den Schülern ist eine gewisse Nervosität zu spüren. Ist das ein Gerücht oder schon beschlossene Sache, daß die Studenten, zu denen auch unsere Schüler gehören, ihr Studium unterbrechen und einen großangelegten Landeinsatz durchführen sollen? Es läßt sich nicht leugnen, die Versorgung mit Lebensmitteln wird immer schlechter, zumindest in der Stadt. Nicht selten kamen die Schüler ohne Frühstück zum Unterricht. Verständlich, daß hier etwas unternommen werden muß.

3. 3. 1975
Heute wurde bekannt, daß dieser Einsatz tatsächlich stattfinden wird. Sie sind aufgeregt wie vor einer großen Reise und können sich nicht mehr recht auf den Unterricht konzentrieren. Ich will wissen wie sie zur Grünen Revolution stehen. Kurz gesagt – sie stehen voll dahinter. Natürlich gibt es auch Vorbehalte einzelner. Cece hat Angst, daß er alles wieder vergißt. Roger möchte fertig werden, um endlich Geld zu verdienen. Keba und Karifala müssen sich von ihren Mädchen trennen. Die meisten nehmen’s als Abenteuer, als willkommene Unterbrechung des Schulalltags.

Überall in Guinea ist man von Kindern umgeben.
Überall in Guinea ist man von Kindern umgeben.

Dieser tatkräftige körperliche Einsatz bei der Feldbestellung wird mit einer zweiten ebenso wichtigen Aufgabe verbunden, der Alphabetisierung. Das ist das Zauberwort, der Schlüssel für jede weitere Entwicklung. In Guinea und anderen ehemaligen Kolonialländern kompliziert sich dieser Prozeß durch die verschiedenen Sprachgruppen. In Guinea gibt es mindestens acht davon. Jedes Land braucht aber eine Amtssprache, die jedem geläufig sein muß. Würde man eine dieser Sprachen zur Amtssprache erklären, käme es unweigerlich zu Konflikten. So muß wohl oder übel die Sprache der verhaßten Kolonialherren in der nächsten Zeit noch als allgemeines Kommunikationsmittel dienen. Präsident Sekou Touré hält jeden Morgen in seinem langsamen, deutlich akzentuierten Französisch eine kurze Ansprache an sein Volk über Radio Conakry, in der er wichtige Tagesfragen erörtert. Wen aber erreicht er damit? Wer besitzt ein Rundfunkgerät oder kann die Tageszeitung „Horoya“ lesen? So soll also ab zweitem Schuljahr Französisch gelehrt werden, was landesweit aber so schnell niemals möglich sein kann. Unsere Schüler werden Ansprachen des Präsidenten und Artikel in die jeweilige Landessprache übersetzen und vielleicht auch kommentieren und so Mittler sein zwischen dem Neuen und dem Alten. Welch schöne Aufgabe für die jungen Menschen!

Ich muß die Aktion „A la campagne!“ (Aufs Land!) richtig finden, obwohl viele andere aus unserer Vertretung da skeptisch sind. Ich gebe zu, daß das Ziel die eine Seite ist, die Durchführung aber eine andere, weitaus problematischere. Doch immerhin – es geschieht etwas. Wie anders als durch die Erschließung eigener Quellen kann das Ernährungsproblem gelöst werden? Durch Importe, durch Almosen ganz bestimmt nicht. Sicher wird auch in den nächsten Jahren noch nicht genug Reis geerntet werden. Wir müssen lernen, in geschichtlichen Zeiträumen zu denken.

Das Jahr der Unabhängigkeit war für Guinea das Jahr Null. Mit welch anderen Voraussetzungen haben wir in der sowjetisch besetzten Zone 1945 begonnen! Wir hatten eine Industrie, wenn auch zum größten Teil zertrümmert, aber wir besaßen Erfahrungen, hatten kaum Analphabeten, eine organisierte Verwaltung. Wenn ich das alles überdenke, wird mir wieder einmal klar, wie selbstgerecht und ungerecht wir Europäer immer wieder über die Entwicklungsländer urteilen. Auch das Regieren will gelernt sein! Ich habe alle Hochachtung vor ihrem Wirklichkeitssinn, der genau die Forderung des Tages erkannt hat: mit eigenen Kräften der Versorgungslage Herr zu werden.

Was aber wird mit uns Lehrern während des Landeinsatzes? Die Antwort erhalten wir bald. Wir sollen „Skripten“ verfassen, eine Art Lehrbriefe, mit deren Hilfe die Ausbildung im Selbststudium fortgesetzt werden kann. Die Mädchen werden weiter in der Schule lernen, damit später die Plätze für die Jungen frei sind. Ich habe mich also hingesetzt und Lehrbriefe verfaßt, was mir viel Spaß bereitet hat. Als ich mit dem ersten zu Diakite kam, bedankte er sich wie immer bei ähnlichen Gelegenheiten überschwenglich. Aber ich war wohl die einzige, die sich mit diesem putzigen Auftrag befaßte.

Abends hatte ich Gäste – Ismael, der kluge, dunkelschöne Urwaldsohn – war auch dabei. Er entstammt einer hochangesehenen Häuptlingsfamilie.

Die Unterhaltung riß nicht ab und mündete bald in den riesigen Fragenkomplex, wie die Sache mit dem Kapitalismus wohl weitergehen und auch von den Entwicklungsländern aufgenommen werden wird. Ismael lenkte das Gespräch und glättete die Wogen. Nächstes Jahr soll er als Instrukteur für „ideologische Aufklärung“ nach Boke gehen, wo das für die Aluminiumherstellung notwendige Bauxit gewonnen wird. Guinea besitzt zwei Drittel aller Bauxitvorkommen der Erde! Vor der Unabhängigkeitserklärung 1956 wurden sie von einem kapitalistischen Trust abgebaut, dem die USA, Frankreich, England, die Schweiz und die BRD angehörten. Danach stellte man die Förderung zunächst ein. Sie kam aber in den 60er Jahren wieder in Gang – allerdings mit dem Unterschied, daß Guinea nun immerhin zur Hälfte daran beteiligt ist. Verständlich, daß das enge Nebeneinander kapitalistischer Firmen mit der jetzt sozialistisch orientierten ehemaligen französischen Kolonie zu Spannungen führen muß. Ismael wird der Richtige sein, in Boke Einfluß zu gewinnen und in der Arbeiterschaft eine Keimzelle sozialistischen Denkens zu schaffen. Aber ohne wirtschaftliche Erfolge, die sich in einer Verbesserung des täglichen Lebens des ganzen Volkes widerspiegeln, verpufft alle schöne Theorie! Widersprüche sind einkalkuliert. Eine gesellschaftliche Systemänderung, also eine Revolution, ist niemals von heute auf morgen zu erreichen.

3. 8. 1975
Die Zeit verrinnt, das dritte Jahr hat schon begonnen. Meine Schüler sind wohlbehalten aus dem Landeinsatz zurückgekommen. Nur einer, Ibrahim, ist nicht dabei. Er habe im Fluß gebadet, sei dabei von einer Giftschlange gebissen worden und schon 20 Minuten später tot gewesen. Ach Ibrahim, wie sah er nur aus, auf welcher Bank saß er? Ja, dort in der Mitte, ein kleiner dicklicher Junge war er. Wir legen eine Gedenkminute für ihn ein.

In kürzester Zeit müssen sie jetzt das Pensum nachholen. Die wenigsten haben mit den Lehrbriefen gearbeitet. Das war vorauszusehen. Die Zwischenprüfung haben alle bestanden, auch Tirow Sow, der Schwächste. Ich wage den Einwand, er hätte doch rein gar nichts gewußt. Diakite macht ein verschlossenes Gesicht: Die Weiße hat sich nicht in unsere Angelegenheiten einzumischen. „Er hat bestanden“, sagt er mit Nachdruck. „Er hat während der Campagne sehr gut gearbeitet.“ Nur das zählt jetzt. Warum auch nicht? Reis anbauen ist vorerst wichtiger als Leukozyten zählen. Ich muß kapieren, daß in einem ausgeplünderten Land nicht alles zu gleicher Zeit in guter Qualität anlaufen kann.