RotFuchs 208 – Mai 2015

Vier schöne Jahre einer weißen Internationalistin
unter schwarzen Freunden

Als mich die DDR nach Guinea schickte
(Teil 1)

Renate Teller

Eine heute 93jährige einstige DDR-Bürgerin hat ihre Erinnerungen über eine mehrjährige Tätigkeit in Guinea aufgeschrieben und dem „RotFuchs“, in dessen Spalten sie schon früher publizierte, Teile ihrer Arbeit zur Verfügung gestellt. Sie erscheinen – redaktionell leicht bearbeitet und gekürzt – als mehrteilige Serie.

Fremde Länder reizten mich, seit ich verinnerlicht hatte, daß mein Heimatdorf Kleinböhla in Sachsen nicht der Mittelpunkt der Welt sein konnte. Vielleicht war diese Szene der Auslöser: Mutter saß mit einem dicken Buch am Fenster, ihr zu Füßen die kleine Tochter. „Mutti, was liest Du’n da?“ Antwort: „Ein Buch über Pflanzen in den Tropen.“ „Was is’n das – Tropen?“ „Das ist ganz weit weg von hier in Afrika.“ Und sie zeigte mir ein Bild mit merkwürdigen Bäumen. Afrika, Tropen, seltsame Bäume – das wollte mir nicht mehr aus dem Kopf. Kindliches Fernweh spukte fortan immer wieder durch meine Träume und wurde zu einer Realität, als Mutter zufällig auf eine Annonce stieß: „Junge Mädchen gesucht, die in der DRK-Schwesternschaft FÜR DEUTSCHE IN ÜBERSEE ausgebildet werden wollen.“

Mich faszinierte allein der Begriff Übersee, von Krankenpflege hatte ich keine Ahnung. Ich sagte trotzdem sofort zu und wurde mit sechs anderen Mädchen nach Wilhelmshaven geschickt, wo wir im Stadtkrankenhaus den Krankenpflegeberuf erlernten und nebenbei erklärt bekamen, wie mit Hilfe des Mikroskops die Erreger von Tropenkrankheiten zu erkennen seien.

Im Herbst desselben Jahres aber begann der alles überschattende Zweite Weltkrieg. Afrika rückte für mich in weite Ferne. Mit heiler Haut davongekommen, fand ich mich danach in Dresden wieder, wo ich an einer neu eingerichteten Fachschule für Mittleres Medizinisches Personal den Höhepunkt meines Berufslebens erreichte: Lehrerin an dieser Einrichtung. Überdies gründete ich mit der Geburt meines Töchterchens eine Kleinfamilie. Was wollte ich mehr? Ich war glücklich und zufrieden.

Eine Besonderheit verband mich immer noch mit Afrika: Das waren afrikanische Schülerinnen und Schüler, die bei uns zu Medizinisch-Technischen Assistenten für ihre Länder ausgebildet wurden, in welche sie später zurückkehren sollten.

Eines Tages kam ich ins Lehrerzimmer, als unser Direktor gerade den Hörer aus der Hand legte. „Ich kann’s doch auch nicht ändern, wenn niemand will!“, sagte er. „Was hast Du denn für Sorgen, wer will was nicht?“, fragte ich. „Na, willst Du vielleicht als Lehrerin nach Afrika gehen?“ Ich mußte mich erst einmal hinsetzen. „Jaa, natürlich!“ Aber ich konnte das alles noch nicht so recht fassen und kehrte auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Was wird mit der erst 7jährigen Dorothee, fragte ich mich. Günter telefonierte zurück und überbrachte mir die Nachricht: „Jetzt stehst Du auf der Liste, und für Dein Kind wird auf alle Fälle in einem sehr schönen Heim gesorgt, wenn Du es nicht mitnehmen kannst.“

In der Folge absolvierte ich noch einen Französisch-Kurs, doch alles zog sich in die Länge. Theoretisch war ich bereits in Togo, Mali und sonstwo. Immer wieder erfolgte eine Absage. Später erfuhren wir den Grund: Die Hallstein-Doktrin der BRD verwehrte den afrikanischen Staaten das Recht, Leute aus der DDR einzustellen. Anfang der 70er Jahre mußte dieses unselige Dogma endlich aufgegeben werden. Prompt machte man mir den Vorschlag, nach Guinea zu gehen, wo Lehrer aus der DDR zur Ausbildung von Laborkräften gesucht wurden. Ob ich wollte? Dorothee war gerade dabei, ihr Abitur abzulegen. Ein Studienplatz an der Berliner Humboldt-Universität war ihr so gut wie sicher. Die Großmama zog zu ihr in die Dresdner Wohnung, so daß beide nicht mehr allein waren. Mein Traum erfüllte sich.

Am 10. September 1973 fand unsere Luftreise nach Conakry einen geradezu theatralischen Abschluß. Wir näherten uns einer Gewitterfront. Unser silberner Vogel stieß respektlos hindurch. Er wurde gerüttelt und geschüttelt. Plötzlich war da ein Loch in der Wolkendecke, Bäume und Sträucher tauchten auf, und uns trennten nur noch wenige Meter von der Erde. Nichts deutete auf einen Flugplatz hin. Meine Nerven begannen zu zappeln. Da! Ein Zementstreifen raste heran, das Flugzeug setzte präzise auf. Als die Kabinentür geöffnet wurde und wir die Gangway betraten, schlug uns ein Schwall feuchtheißer Luft entgegen.

Nach vielen Jahren erinnere ich mich noch heute an jede Phase der halbstündigen Fahrt in die Stadt: an die volkreiche Straße, die Frauen in langen farbenfrohen Gewändern mit Babys auf dem Rücken, eine Last auf dem Kopf, die Männer in einfachen Anzügen oder im langen Bubu, Rundhütten und Palmen am Rande, Ziegen und Hühner ungeniert im Verkehr. Ich sog die fremde Kultur auf, wollte sie verstehen und lieben.

Reni, einer jungen Biologielehrerin, und mir wurde eine Wohnung im europäischen Stil zugewiesen. Glasfenster gab es nicht, wohl aber eine Art Jalousie. Tropisches Getier empfing uns, das zwei Monate lang ungestört in den Räumen hatte leben und sich vermehren können: Gottesanbeterinnen mit zierlich erhobenen Vorderbeinen, Geckos, die mückenfangend die Wände hinauf und hinunterhuschten, auch Kakerlaken, von denen es wimmelte.

Die ersten Tage waren mit der Vorstellung bei guinesischen Behörden, Besprechungen und wechselseitigem Kennenlernen ausgefüllt. Wir wurden in sogenannte Expertengruppen eingeteilt. Ich gehörte zu den Medizinern. Unser Leiter war ein junger Arzt aus Leipzig. Wir duzten uns alle. Helli, so hieß er, erbot sich, mich zur Ecole de la Santé zu begleiten. Da er sich verspätete, wartete ich auf einer Bank, die an eine Palme gelehnt war. Ein großer Mann lief schnellen Schrittes auf mich zu und redete in einer mir unverständlichen Sprache auf mich ein. Er schüttelte mir die Hände, redete und redete. Es war Diakité, der Technische Direktor der Medizinischen Schule. Dann wurde ich zur Rektorin der Einrichtung beordert, die gerade Schreibhefte an die Klassenältesten austeilte – „un pour chacun“, für jeden nur eins. Wir begrüßten einander, wobei ich vorbaute: „Mon Français n’est pas bien encore.“ Die Rektorin winkte ab. Noch unvollkommene Sprachkenntnisse im Französischen seien nicht schlimm, für Guineer sei das ja auch nur eine Fremdsprache. Dann erzählte sie mir von ihrer Reise in die DDR, wie sie die Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser in einem Land beeindruckt hätten, wo niemand hungert, jedes Kind den Unterricht besuchen müsse und alle Kranken unentgeltlich ärztlich behandelt würden. Und sie fügte hinzu: Wo jeder Arbeit und eine Wohnung habe. Für DDR-Bürger seien das Selbstverständlichkeiten, von denen man in Guinea vorerst nur träumen könne.