RotFuchs 221 – Juni 2016

Anleihen bei Goethe

Klaus Steiniger

Je vordergründiger die Gedanken- und Gefühlswelt der jüngeren und heranwachsenden Generationen unter dem Einfluß ständiger Medienmassage wird, um so mehr versperrt sich ihnen auch im Osten der Zugang zu den großen Schätzen der eigenen wie der Weltkultur. Schon heute können unzählige unserer deutschen Mitbürger mit den Namen – geschweige denn den Werken – von Goethe, Schiller, Lessing, Heine, Herder oder Freiligrath kaum noch etwas anfangen.

Johann Wolfgang von Goethe – Nach einem Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828

Johann Wolfgang von Goethe –
Nach einem Ölgemälde von
Joseph Karl Stieler, 1828

Man denke dabei nur an jene unselige Meinungsumfrage des ZDF aus dem Jahre 2003, als Konrad Adenauer mit 778 984 Stimmen auf den ersten Platz unter den beliebtesten und berühmtesten Deutschen gelangte, während auf Goethe nur 185 426 Stimmen und der siebte Platz entfielen. Karl Marx schaffte es dank eines massiven Votums politisch gebildeter ehemaliger DDR-Bürger immerhin auf Platz drei, was Schiller nicht gelang, der gar nicht mehr erfaßt wurde.

Die Erkenntnis, daß jeder vernunftbegabte Mensch ihn prägende nationale Wurzeln besitzt und sich zugleich auch die bedeutendsten Kulturschätze anderer Völker erschließen sollte, gehörte in der DDR mit ihrem weltoffenen Schulwesen zum humanistischen Erbe. Die in der alten BRD verbreitete und Tag für Tag den Menschen eingeimpfte Vorstellung, DDR-Bürger seien in ihrem Denkhorizont auf die zweifellos wegweisenden Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus und andere kommunistische Autoren eingeengt worden, vermittelt ein demagogisches Zerrbild der facettenreichen Wirklichkeit dieses kleinen und zugleich großen Staates im Herzen Europas.

Gerade in den letzten Jahren und Monaten, in denen Tausende und aber Tausende von der EU und den USA schmählich im Stich gelassene Kriegs- und Elendsflüchtlinge aus langfristig zerstörten Ländern vor allem des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch Afrikas im Mittelmeer elend ertrunken sind, kamen mir immer wieder die ins Schwarze treffenden Worte aus Goethes „Faust“ ins Gedächtnis: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen.“

Schaltet der Durchschnittsbürger bei genüßlichem Abendessen oder einem sorgfältig kaltgestellten vorzüglichen Trunk eine beliebige Nachrichtensendung ein, wird er – ohne sich dadurch in seiner Ruhe allzusehr stören zu lassen – sofort mit den Schreckensszenarien „weit in der Türkei“ oder auf syrischem, irakischem, libyschem und griechischem Territorium konfrontiert. Ohne das Gehörte oder das Gesehene aufgrund meist irreführender Kommentierung richtig einordnen zu können, bezieht er – weltanschaulich und wissensmäßig oftmals unvorbereitet – eine den Realitäten fremde Position, die ihm in hohem Maße von den immer einflußreicheren rechten und faschistoiden Kräften oktroyiert wird.

Um auf Gesehenes, Gehörtes oder Gelesenes entsprechend reagieren zu können, bedarf es eines Mindestmaßes politischer und allgemeiner Bildung. Hier aber klafft die Schere zwischen dem Osten und dem Westen der BRD gewaltig auseinander. Einstige DDR-Bürger, die 40 Jahre Sozialismus nicht gänzlich verschlafen haben, sind der Mehrheit ihrer Landsleute jenseits von Elbe und Werra dadurch um Längen voraus, daß sie in ihrer zehn- bis zwölfjährigen Schulzeit mit klassenorientiertem Denken und Einordnen gründlich vertraut gemacht wurden. Das erleichtert ohne Zweifel die Suche nach den Hintergründen und Zusammenhängen konkreter Ereignisse. Auch wenn schon viel in jener Zeit erworbenes Wissen von den noch Lebenden inzwischen abgestreift oder verdrängt worden sein mag, verfügen noch immer große Teile der Bevölkerung im Osten über diesen soliden Kompaß. Gleichgesinnte im Westen hatten es schwerer. Nur eine Minderheit vermochte sich dort durch solides, in die Tiefe gehendes eigenes Studium der Werke von Marx, Engels und Lenin sowie anderer bedeutender Theoretiker diese Orientierung zu verschaffen. Aber ohne Theorie gibt es keine erleuchtete Praxis.

Dem Abstrakten will ich Selbsterlebtes als Beweis hinzufügen. Anfang der 50er Jahre wurde von der SED, der ich seit 1948 bis zum bitteren Ende angehörte, das erste Parteilehrjahr eingeführt. Es bot drei oder vier verschiedene Kurse an. Da ich mich damals wie viele unserer Genossen besonders für den Weg der Sowjetunion interessierte, entschied ich mich, gerade 17jährig, für den Zyklus „Geschichte der KPdSU (B)“. Unseren Kurs leitete der damals sehr bekannte Rundfunkredakteur Alfred Duchrow, der, wenn ich mich recht entsinne, auch als Interbrigadist für die deutschen Antifaschisten Ehre eingelegt hatte.

Er vermochte uns auf Anhieb zu begeistern, mußte aber schon nach der ersten Zusammenkunft aus gesundheitlichen Gründen leider aufgeben. Als seinen Nachfolger schlug er mich vor, der den Text zwar nahezu auswendig kannte, ohne ihn bereits mit hinreichender Tiefe zu erfassen. Dennoch gab ich mein Bestes und stieß dann zu meiner Überraschung im Abiturzeugnis auf den gewiß überhöhten Satz: „Er ist Lehrer im Parteilehrjahr der SED.“ Am meisten gelernt habe damals wohl ich. Zweierlei hat sich mir in all den Jahren am tiefsten eingeprägt: Um in schwer überschaubaren Zeiten die Orientierung nicht zu verlieren, muß jemand aus unserem Holz einen festen Klassenstandpunkt im Sinne der nicht an das Kapital Gebundenen beziehen und mit der Liebe zum eigenen Volk über die Bereitschaft verfügen, diese mit Solidarität gegenüber allen anderen Völkern der Welt zu verbinden.

Übrigens hat uns Goethe unter völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen auch hierfür das Credo seines Lebens hinterlassen, als er im „Westöstlichen Diwan“ schrieb: „Denn ich bin ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein.“