RotFuchs 191 – Dezember 2013

Archie „auf Station“

Manfred Hocke

Als Archie im Sommer den Versuch unternahm, wieder einmal mit einem deutschen Billigreisebüro an die polnische Ostseeküste bei Miedzyzdroje zu gelangen, schwelgte er bereits in Erwartung und Vorfreude. Immerhin kannte er den Strand und das gastfreundliche Haus, wo man von jedem Balkon aus auf die Ostsee blicken kann. Am Wechselspiel von Himmel, Wolken und Meer erfreute er sich besonders. Bei seinem letzten Aufenthalt hatte er dort allerdings ein beängstigendes Unwetter erlebt, so daß es ihm bisweilen vorkam, als steige der Klabautermann tatsächlich gerade über die Balkonbrüstung ins Zimmer. Bei Sonne aber scheint kein anderes Meer so klar zu sein wie die Ostsee bei Misdroy in all ihren Blau- und Grüntönen. Billig ist dieses Hotel im heutigen Polen übrigens auch nicht gerade, eine Wochenpension mit Frühstück kostet an die 500 Euro. Aber der Arzt hatte Archie dringend Seeluft empfohlen, um ihm das beschwerliche Atmen zu erleichtern.

Doch es kam leider ganz anders. Seine Frau hatte – über einen neuerlichen Anfall von Luftnot ihres Mannes erschrocken – einen Rettungsarzt herbeirufen müssen, der ihn sofort ins Krankenhaus einwies. Dort brachte er ewig in der Notaufnahme zu, obwohl er zuvor schon dreimal in eben diesem Haus mit derselben Diagnose gelandet war. Der Aufnahmearzt, der ihn auf die Station einwies, konnte an ihn gerichtete Fragen auf Grund sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten leider nicht beantworten.

Archie kam in ein Vierbettzimmer mit lauter hustenden, prustenden und keuchenden Männern um die Achtzig, also seines Alters, wobei die Patienten häufig wechselten. Zwei seiner aktuellen Bettgenossen starrten Tag und Nacht auf die Mattscheibe des Fernsehers und zogen sämtliche schwedischen Krimifolgen mit Kommissar Wallander in sich hinein. Daß solches bis in die Nacht geschehen konnte, gehörte dort offenbar zur Routine und schien niemanden zu stören – außer Archie.

Ein früherer Schuldirektor aus DDR-Zeiten, der mit fürchterlichen Hustenanfällen kämpfte, befaßte sich fast ohne Unterlaß mit Briefmarken und Kreuzworträtseln.

Hauptgesprächsthemen waren – wie in Hospitälern üblich – natürlich die jeweiligen Krankengeschichten. Zwei einstige Facharbeiter gelangten bei ihrer Unterhaltung zu der Erkenntnis, sie seien in den letzten Jahrzehnten abwechselnd durch schwere Maloche oder Erwerbslosigkeit krank geworden. Beide waren gesundheitlich sehr angeschlagen, wollten über ihre Probleme sprechen, suchten also in gewisser Weise nach den Ursachen des Unheils, das da über sie hereingebrochen war. Sie waren recht intelligent, besaßen selbst in ihrer mißlichen Lage noch eine Portion Humor und erzählten ganz heitere Episoden. So wußte der eine von ihnen zu berichten, er habe dreimal geheiratet – immer dieselbe Frau. Die beiden Scheidungen, die er schilderte, schienen Archie sehr plausibel, die Hochzeiten nicht minder. Diese Story wurde nur noch durch die Erzählung eines Amateur-Heiratsschwindlers übertroffen, der einer hübschen Heiratsschwindlerin auf den Leim gegangen war und von ihr über den Tisch gezogen wurde. Danach waren sie 25 Jahre lang ehelich verbunden. Der einstige Schuldirektor schwor – zwischen seinen Hustenattacken und der Befassung mit den erwähnten Lieblingsthemen – auf das Bildungswesen der DDR und erzählte rührende Schülergeschichten, die heute gar nicht mehr denkbar wären. Danach tauchte er aber sofort wieder in seine Buchstabensuche ein. Offenbar hatte er die Kreuzworträtsel selbst erfunden.

Eine etwas tiefgründigere Beschäftigung mit politischen Themen fiel allerdings aus, wie Archie das auch schon bei Patienten, mit denen er früher zusammenlag, erfahren hatte.

Nachdem die Chancen für einen Sozialismus auf deutschem Boden zunächst einmal verspielt worden sind, heißt jetzt offenbar das Motto vieler: Rette sich, wer kann! Jeder, der dazu imstande ist, sollte sich eine hübsche Nische suchen, und wenn ein recht Betagter noch einen Bus fahren kann oder eine Frau in fortgeschrittenem Alter als Reinigungskraft noch saubermachen darf, dann ist das eben die neue Freiheit. Nach ihr hatten ja nicht wenige geschielt, als sie angesichts ihnen zugeworfener Bananen wahre Veitstänze aufführten. Blanker Zynismus!

Wenn Archie an die alten Männer in ihren Krankenbetten denkt, deren Arbeitsbiographien mit dem Untergang der DDR jäh beendet waren und die jetzt heimlich in ihre Kissen weinen, fragt er sich immer wieder: Was macht solche Menschen nur so manipulierbar, daß sie trotz allem eine Angela Merkel wählen? Es ist wohl die ständige Angst vor den Normen und Umgangsformen einer mitleidlosen Gesellschaft oder die Furcht vor einer Gewalt, die jeden von heute auf morgen nach ganz unten befördern kann. Deswegen stehen die Führungsetagen nur Skrupellosen offen, die in ihrer Unverfrorenheit weder Tod noch Teufel fürchten, da sie ja alles kaufen können, sogar Bildung vom Feinsten.

Während Archie solch düsteren Gedanken nachhing, blickte er aus dem Bettenhochhaus der Klinik in den Himmel, wo sich – wie einst an Polens Ostseeküste – gerade ein bedrohliches Gewitter mit schwarzgelben Wolken und grellen Blitzen aufbaute.

Da zeigte sich schon wieder der Klabautermann, von dem eingangs die Rede war. Noch schäkerte er allerdings auf dem Gang mit der Schwester.

Klabautermänner, denkt Archie, beherrschen heute und vermutlich auf längere Sicht allenthalben das Denken und Handeln vieler Menschen. Das ist so, weil der rabiate Kapitalismus auch bei uns im Osten Einzug gehalten hat. Dabei sollte man doch lieber auf Brecht hören: „Das Sichere ist nicht sicher, so wie es ist, bleibt es nicht!“

Eine traurige Nachricht

Wir hatten diese Archie-Folge bereits in Satz gegeben, als uns am 7. November die Nachricht von Manfred Hockes Ableben in der Berliner Charité erreichte. Sein Tod ist nicht nur ein schmerzlicher Verlust für die Angehörigen, denen wir in Verbundenheit fest die Hand drücken, sondern beraubt auch den „RotFuchs“ eines langjährigen Mitstreiters, Freundes und Autors. Bisher schien es so, als sei sein Vorrat an Archie-Geschichten zur Bereicherung des Feuilletons unserer Zeitschrift unerschöpflich.

Mit dem nun unvermeidlichen Ausklingen der von vielen Lesern geschätzten Beiträge aus Manfred Hockes Feder verbinden wir die Erinnerung an einen bewährten Dramaturgen und Lektor.

Wir entbieten Manfred Hocke – unserem Archie – einen letzten traurigen Gruß.