RotFuchs 188 – September 2013

Archies bedrohtes Paradies

Manfred Hocke

Es gab eine Zeit – die 50er Jahre – da war Archie viel in der DDR unterwegs. 1952 hatte er im sächsischen Bischofswerda auf einem humanistischen Gymnasium, an dem auch Altsprachen unterrichtet wurden, das Abitur gemacht. Als Student wohnte er am Berliner Zionskirchplatz. In seiner kleinen Stube fiel ihm gelegentlich die Decke auf den Kopf. Des öfteren sauste er mit seinem tschechischen Rennrad zur Uni oder zu Bibliotheken. Später kam ein gebrauchtes Motorrad der Marke Horex hinzu – ein älteres Knattermobil mit reichlich PS, das sich auf den holprigen Landstraßen als robust erwies. Zwischen Berlin, der Lausitz und der Ostsee ratterte er hin und her, um die DDR zu erkunden, Land und Leute kennenzulernen. Er besuchte auch Tanten und Cousinen, die früher wie er selbst in Schlesien gelebt hatten und jetzt über Thüringen verstreut waren. Fast jedes Mal, wenn er in Bad Langensalza oder Mühlhausen eintraf, besaß er eine Cousine weniger. Der Sog des „Goldenen Westens“ hatte sie erfaßt und mitgerissen. Archies Tanten waren darüber untröstlich, verloren sie doch die erhoffte Stütze ihres Alters.

Bei den Fahrten durchs schöne Thüringer Land rund um den Kyffhäuser stieß Archie häufig auf Gegner der DDR, ja regelrechte Sozialismus-Hasser. Übrigens mehr als anderswo. Bei späteren Aufenthalten in der Region, so in Ferienheimen der Gewerkschaft FDGB, sollte sich sein Eindruck zum Positiven hin verändern. Vielleicht waren auch die Menschen inzwischen zu neuen Einsichten gelangt.

Abstecher, die ihn nach Mecklenburg und an die Ostsee, nach Prerow und auf den Darß führten, ließen Archie keine so negativen Erfahrungen sammeln. Im Norden der Republik trugen die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) bereits erste Früchte, und die nun gemeinsam wirtschaftenden Bauern gelangten Schritt für Schritt zu bescheidenem Wohlstand. Wenn sich aber die halbe DDR in den Sommerferien an der Ostsee tummelte – dazu noch etliche Urlauber aus der ČSSR und Ungarn – waren die küstennahen Kleinstädte und Dörfer derart überlaufen, daß sich vor den Gaststätten Schlangen bildeten, zumal die Preise auf den Speisekarten äußerst niedrig waren. Trotz der Drängelei wurden auf den Campingplätzen, so am Pepelower Salzhaff und anderswo, rauschende Sommerfeste gefeiert. Bier und Wein flossen dabei in Strömen, Bratwurst vom Grill und Fisch gab es jede Menge. Die Parkplätze waren überfüllt.

Natürlich fehlte es auch hier nicht an Unzufriedenen, von denen einige sogar mit dem Paddelboot über die Ostsee abhauen wollten. Auch zwackte manchen das Fernweh, wenn er bei Kap Arkona am Leuchtturm stand und einen weißen Luxus-Liner am Horizont vorübergleiten sah. Selbst dieser oder jener mit der DDR verbundene Genosse mag da in seinem Innersten gedacht haben: Auf immer und ewig sollte sich eine solche Grenze nicht durch Deutschland ziehen. Allerdings dürften sich die meisten, die solche Erwägungen anstellten, eine Einheit unter völlig anderen Vorzeichen als jenen, welche sie dann wahrnehmen mußten, ausgemalt haben.

Archie erschien die DDR wie ein bedrohtes Paradies, das sich inneren und äußeren Feinden gegenübersah. Keineswegs alle waren da seiner Meinung, wie er bekümmert feststellen mußte. Er hatte sich schon als Halbwüchsiger für dieses Land entschieden – nach den schlimmen Erfahrungen des 2. Weltkrieges, der ihn selbst betroffen hatten. Die DDR war zu seinem Biotop geworden, das er verbessern, aber niemals loswerden wollte, wobei in seinem Denken gewiß auch ein Schuß Naivität gesteckt haben mag.

Als er am zurückliegenden 17. Juni die heuchlerischen Reden in Radio und TV vernahm, wurde ihm bei so viel Lüge und Verdrehung speiübel. 60 Jahre zuvor war Archie Unter den Linden entlang zur Humboldt-Universität geradelt und hatte dort mit Erschrecken eine große Zahl politischer Trittbrettfahrer beobachtet, die mit ideologischen Brandbeschleunigern unterwegs waren, um die Situation anzuheizen und zu zündeln. Wenn Archie im Autoradio vernahm, wie der einstige RIAS-Chefredakteur und damalige Haupteinpeitscher Egon Bahr in einer Gesprächsrunde vollmundig behauptete, man habe damals die als Zone bezeichnete DDR durchaus zu schonen versucht, kann er nur lachen. Bloß kein Öl ins Feuer gießen, sei die Devise gewesen, tönte Bahr. Schließlich habe es ja noch den Viermächtestatus gegeben, und überdies hätte die Gefahr eines dritten Weltkriegs in der Luft gelegen. Leider war das Denken und Handeln der Feinde der DDR dieser geschönten Situationsschilderung gegenüber völlig konträr.

Als er an jenem „Jubiläumstag“ die Zeitungen aufschlug, las er zu seiner Verblüffung, am 17. Juni 1953 habe sich eine Million Menschen der „Ostzone“ wie ein Mann erhoben, um mit dem „Regime“ Schluß zu machen. Die Schlagzeilen strotzten vor Lügen. Multiplikation ist alles. Je länger ein Ereignis zurückliegt und je weniger Zeitzeugen es gibt, um so brutaler entstellt man die Wahrheit. Der vielgedruckte, schon immer auf zwei Schultern tragende Bücherschreiber Rolf Schneider, der zu den Standardgästen der US-Botschaft zählte, verkündete im Beisein Bahrs, ohne Einsatz der sowjetischen Panzer wäre die DDR wie ein Kartenhaus zusammengefallen.

Wenn Archie demgegenüber seine eigenen Wahrnehmungen mit der heutigen Entstellung des Geschehens vor 60 Jahren vergleicht, fragt er sich, welches Bild sich wohl ein jetzt 18jähriger von den Vorgängen machen soll. Mit der Realität dürfte es nichts mehr zu tun haben.

In den 50er Jahren steckte noch unendlich viel Braunes in etlichen Köpfen. Auch ein Gutteil der protestierenden Bauarbeiter hatte der Nazi-Partei und deren Gliederungen angehört. 1945 waren nämlich fast sämtliche früheren NSDAP-Mitglieder von ihren lukrativen Posten entfernt und nicht gerade freiwillig zum Mittun beim Wiederaufbau des von ihrem „Führer“ Zerstörten gezwungen worden. Natürlich gab es auch nicht wenige, die einen starken Willen zur Errichtung einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung entwickelten, darunter auch ehemalige Nazis.

Handelt es sich bei all dem nur um Schnee von gestern, oder ist nicht vieles, was heute als demokratisch verkauft wird, in Wirklichkeit immer noch mit Brauntönen durchsetzt? Walter Ulbricht würde sagen: „Eine gute Frage.“