RotFuchs 234 – Juli 2017

Armseliger amtlicher Armutsbericht

Rico Jalowietzki

Die Bundesregierung hat im April ihren fünften Armuts- und Reichtumsbericht vorge­legt. Auf 654 Seiten wird in der Langfassung die BRD in den schönsten Farben ge­zeichnet – der Weg ins Paradies scheint demnach wirklich nicht mehr weit zu sein, zumindest für jene, die ihre Augen vor den realen Zuständen hierzulande verschlie­ßen. Auch die 46seitige Kurzversion muß als Meisterwerk der Demagogie und Schön­färberei entlarvt werden. So wird behauptet, Armut wie Reichtum seien „gesellschaft­liche Phänomene mit vielen Facetten“. Sind sie also vom Himmel gefallen, oder wer­den sie von Zauberhand willkürlich verteilt? Sind sie nicht eher Folge privatkapitalis­tischen Wirtschaftens – gewollt von den Herrschenden im Auftrag der besitzenden Klasse? Das Wort Phänomen steht übrigens für Erscheinung, seltenes Ereignis oder Wunder. Das Leben in der BRD – alles Zauber? Wer Armut und Reichtum wirklich sehen will, braucht sich nur einen Tag lang durch verschiedene Stadtbezirke von Berlin zu bewegen. Glanz und Elend geben sich hier ein Stelldichein, oft dicht an dicht.

Weiter heißt es: „Langzeitarbeitslosigkeit ist eines der schwerwiegendsten Armuts­risiken und besonders häufig mit einer Verfestigung der Armut verbunden.“ Was für eine bahnbrechende Erkenntnis! Und welche Ursachen liegen ihr zugrunde? Warum stellt man nicht die Frage, ob eine kapitalistische Gesellschaftsordnung ohne Arbeitslosigkeit überhaupt lebensfähig ist? Oder fürchtet man, Arbeitern und Ange­stellten damit eine Handhabe für ihren Kampf gegen Hartz IV zu geben?

Zynisch wird es, wenn behauptet wird: „Nur wenige Kinder in Deutschland leiden jedoch unter erheblichen materiellen Entbehrungen.“ Wie bitte? Im Jahr 2015 lebten in der BRD etwa 2,55 Millionen Mädchen und Jungen in Familien, denen so wenig Geld zur Verfügung steht, daß sie als arm oder armutsgefährdet gelten. Und das in der so reichen BRD!

Freude herrscht über das deutsche Bildungswesen. „Der Bildungsstand und die Bil­dungsbeteiligung der Bevölkerung haben sich in den letzten Jahrzehnten kontinu­ierlich verbessert“, wird herausgehoben, was keine Kunst ist, wenn lediglich nur die Abschlüsse und nicht die Bildungsinhalte zu bewerten sind. Ich bin am Rande eines „Kreativseminars“ einmal gefragt worden, ob ich nicht Bedenken hätte, dem Konkur­renzdruck durch 15 oder 20 Jahre jüngere Mitarbeiter standhalten zu können. Meine Antwort: „Nein, denn ich habe quer durch alle Firmen noch nie so viel Dummheit und Faulheit erlebt wie in dieser Altersklasse.“ Bild, Gala, Bunte, RTL, PRO7 und Konsor­ten haben ihren Anteil daran.

Genugtuung herrscht, wenn man feststellen kann: „Die Leistungssysteme der Grund­sicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) bekämpfen Armut und Mangel.“ Wie wäre es, wenn sich die Mitglieder des 24köpfigen Gutachtergremi­ums – zumeist Professoren und Doktoren – dazu hinreißen ließen, ihre Konten sperren und sonstiges Vermögen beschlagnahmen zu lassen. Dann könnten sie einmal – probehalber – unter der menschenunwürdigen Hartz-IV-Knute leben und deren Hiebe am eigenen Leib erfahren. Vielleicht würde dann ein solcher Satz, der Millionen Betroffene verhöhnt, im nächsten Armuts- und Reichtumsbericht fehlen.

„Die Frage der individuellen Gesundheit kann in einem Zusammenhang mit den materiellen Möglichkeiten des jeweiligen Haushalts stehen.“ Nein, sie kann nicht, sondern steht mit ihnen in engstem Bezug. Spätestens bei der Beschaffung von Zahnersatz oder Brillen scheiden sich im Gesundheitssystem der BRD die Klassen.

Zum Ende hin nimmt der Bericht sogar ein wenig poetische Züge an. „Ein Dach über dem Kopf, das Schutz, Wärme und Raum für eine gute Lebenssituation bietet, ist ein menschliches Grundbedürfnis.“ Sieh an! Doch die Herrschenden scheinen nicht daran interessiert zu sein, allen dieses Grundbedürfnis zuzugestehen. Eine Zahl von offiziell etwa 335 000 Obdachlosen (darunter rund 29 000 Kinder!) ist beschämend für ein Land, das sich und sein kapitalistisches „Erfolgsmodell“ lobpreist.