RotFuchs 218 – März 2016

Martin Luther King war ein Bahnbrecher
des „anderen Amerika“

Atheistischer Respekt
vor einem Gottesmann

Klaus Steiniger

Der 19. Januar ist in den USA seit vielen Jahrzehnten ein dem Andenken des Predigers, Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Dr. Martin Luther King jr. gewidmeter Nationalfeiertag. Mit ihrer Entscheidung, den am 4. April 1968 auf dem Balkon des Lorraine Motels in Memphis am Mississippi erschossenen Wegbereiter der afroamerikanischen Befreiungsbewegung auf solche Weise zu ehren, wollte die Kennedy-Administration das aufs schwerste beschädigte Image der Vereinigten Staaten demonstrativ aufbessern.

Nach seinen jahrelangen erfolgreichen Schlachten gegen den systemimmanenten Rassismus im Süden hatte sich MLK, wie er in den USA kurz genannt wurde, in die Ghettos von Los Angeles und New York begeben, um seinen Kampf fortzusetzen und auch dort die Führung der Befreiungsbewegung zu übernehmen.

Polizeiaufnahme aus Birmingham (Alabama)

Nachfolgende Generationen der Zeugen des seinerzeitigen Geschehens haben einen Anspruch darauf, die Wahrheit über einen großen Kirchenmann, Humanisten und Teilnehmer am Klassenkampf zu erfahren, dessen gesamtes Handeln nicht nur der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren starke Impulse verlieh.

1955 hatte MLK die politische Arena im USA-Südstaat Alabama betreten. Damals ernannte ihn die landesweit wirkende Nationale Vereinigung für den Fortschritt der Farbigen (NAACP) zum Sprecher des große Aufmerksamkeit auf sich lenkenden Bus-Boykotts in Montgomery. Die mutige Rosa Parks – seitdem eine Ikone der Bürgerrechtler und aller Antirassisten in den USA – hatte den Funken ins Pulverfaß zu schleudern gewagt: Am 1. Dezember 1954 weigerte sie sich, ihren Sitzplatz im ausdrücklich Weißen vorbehaltenen Teil eines städtischen Busses zu räumen. Die daraufhin erfolgte Festnahme der beherzten Frau mittleren Alters durch die rassistische Polizei Alabamas schweißte nicht nur die schwarze Bevölkerungsmehrheit von Montgomery buchstäblich über Nacht zusammen, sondern löste darüber hinaus einen Sturm der Empörung aus, der immer mehr anschwoll und die Führung des Landes nach Jahren erbitterten Kampfes der Befreiungsbewegung zumindest in legalistischer Hinsicht zur Aufhebung der bis dahin beibehaltenen Rassentrennung im Süden zwang. Das Gesetz über Bürgerrechte aus dem Jahre 1964 und das etwas später folgende Wahlrechtsgesetz markierten eine siegreiche Etappe auf dem Weg des Triumphs der afroamerikanischen Volksbewegung.

Hunderttausende jubelten Martin Luther King beim Aufmarsch in Washington zu.

Am 1. Februar 1956 war zunächst eine von der NAACP angestrebte richterliche Entscheidung über die Beendigung der Rassendiskriminierung in Montgomerys öffentlichen Verkehrsmitteln in Kraft getreten – ein erster Sieg.

1963 – dem Jahr der Ermordung J. F. Kennedys – setzte MLK Aktionen ähnlicher Art in Birmingham (Alabama) fort. Die rassistische Staatsmacht antwortete mit der brutalen Verfolgung Tausender überwiegend junger Teilnehmer an Protestmärschen. Es kam zu Massenverhaftungen. MLK wurde selbst mehrere Male eingekerkert. Dennoch konnte sich seine Bewegung auch in Birmingham durchsetzen. Im selben Jahr folgte der legendäre Marsch durch die Autometropole Detroit, an dem bereits 200 000 Menschen teilnahmen. Als herausragendes Ereignis galt damals die Entscheidung der einflußreichsten Gewerkschaftszentrale des Landes – der United Auto Workers (UAW) –, ihr ganzes Gewicht zur Unterstützung der Bewegung Martin Luther Kings in die Waagschale zu werfen. Schon während der Kämpfe in Montgomery hatte die schwarze Befreiungsbewegung mit der Unterstützung der UAW-Zentrale rechnen können. 1958 war von MLK in einer Schrift auf die Tatsache hingewiesen worden, daß von den 13,5 Millionen Mitgliedern der Dachorganisation AFL-CIO immerhin 1,3 Millionen – also ein Zehntel – Afroamerikaner seien.

In vordertser Front gegen den Rassismus

Während des Aufmarschs in Detroit hielt der rebellische Pastor die erste seiner berühmten Reden, welche mit den Worten begann: „I have a dream – Ich habe einen Traum.“

Schon am 28. August 1964 wurde dann mit der gigantischen Kundgebung in Washington auch die Hauptstadt der Vereinigten Staaten einbezogen. Unter den die Metropole überflutenden Massen befanden sich besonders viele Gewerkschafter.

Die Verbindung zu den Unions besaß für MLK stets einen besonders hohen Stellenwert. Im Frühjahr 1968 engagierte er sich vor allem für den Verband der kommunal Beschäftigten, dessen Local 1733 in Memphis (Tennessee) fast nur aus miserabel bezahlten afroamerikanischen Müllmännern und Kräften der Straßenreinigung bestand. Sie führten einen erbitterten Kampf für ihre Anerkennung und die Durchsetzung gerechter Löhne. Als dort der Generalstreik ausgerufen wurde, war MLK sofort zur Stelle. Die letzten Bilder des furchtlosen Baptisten-Predigers zeigten ihn in der vordersten Reihe der zum Protest aufmarschierenden „sanitation workers“ von Memphis.

Ein Bilddokument aus jüngster Zeit: Schwarze Leben zählen!

Nach dem Mord an dem erst 39jährigen Kirchenmann, der zugleich – objektiv betrachtet – auch ein von Millionen Atheisten in aller Welt verehrter Klassenkämpfer war, präsentierte das FBI sehr bald als vermeintlichen Täter einen gewissen James Earl Ray. Auf Anraten seines Anwalts gestand dieser das ihm angelastete Verbrechen, um so der Todesstrafe zu entgehen. Doch nur wenig später widerrief er seine Aussage und stellte sich als Opfer einer Verschwörung dar. Das damit angestrebte Ziel, einen ordentlichen Prozeß mit 12 Geschworenen zu erzwingen, erreichte er jedoch nicht.

„Die Familie King glaubt nicht, daß Ray irgend etwas mit dem Mord im Lorraine Motel zu tun gehabt hat. Sie geht vielmehr wie andere davon aus, daß der Bluttat eine Verschwörung unter Verstrickung der US-Regierung zugrunde gelegen hat“, verlautete damals. Diesen Schluß zog übrigens auch die Geschworenenjury im parallelen Zivilprozeß gegen Loyd Jowes und ungenannte Mitverschwörer.

Weite Kreise der USA-Öffentlichkeit hegen im Hinblick auf den Mord in Memphis bis heute ähnliche Zweifel, wie sie im Zusammenhang mit den Anschlägen auf Präsident John F. Kennedy und dessen Bruder, Justizminister Robert Kennedy, niemals ausgeräumt werden konnten. Viele Amerikaner glauben, daß sich das Establishment nach fehlgeschlagenen Versuchen, Martin Luther King als verkappten Kommunisten und hemmungslosen Schürzenjäger zu diskreditieren, zur physischen Ausschaltung des Führers der afroamerikanischen Befreiungsbewegung entschlossen habe.

Interessant dürfte auch dieses Detail sein: Der vermeintliche Killer James Earl Ray war alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Aus einem staatlichen Gefängnis der USA entwichen, wurde er auf dem Londoner Flughafen Heathrow festgenommen, als er gerade eine Maschine nach Afrika besteigen wollte, wo er unterzutauchen gedachte. Mit der Sache befaßt gewesene US-Kriminologen halten es für höchst unwahrscheinlich, daß er seine bereits eingeleitete Flucht ins Ausland durch einen Mord zusätzlich hätte gefährden wollen.

Doch beschränken wir uns auf diese Betrachtung der Ära Martin Luther Kings, in der es zeitweilig durchaus den Anschein gehabt hatte, als läge das Schlimmste vom finsteren Erbe des Amerikas der Sklavenhalter nun hinter den Bürgern der USA, um einen Blick auf das gespenstische Wiederaufflammen alter rassistischer Übel im imperialistischen Hauptland zu werfen. Wie sich während der letzten Jahre gezeigt hat, vermochte auch ein schwarzer Mann im Weißen Haus am Wesen der Dinge nichts zu ändern, selbst wenn seine Gesamtbilanz nicht die schlechteste aller Präsidenten der Vereinigten Staaten gewesen sein mag. Die von manchen innerhalb wie außerhalb der USA sogar ehrlichen Herzens als echter Wandel empfundene Entwicklung in der Ära Martin Luther Kings ist inzwischen weitgehend durch einen Rückfall in die Vergangenheit ersetzt worden. Die antirassistische Tünche blättert immer mehr ab, und neue heiße Sommer des Amoklaufs gegen schwarze Mitbürger bestimmen abermals die Szenerie. Einflußreiche Kräfte versuchen offensichtlich, die Niederlage der US-Rassisten im 20. Jahrhundert in Vergessenheit geraten zu lassen. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied zur damaligen Situation: Mußte Martin Luther King der Befreiungsbewegung erste Impulse geben, so existiert heute eine machtvolle selbstbewußte schwarze Gemeinschaft in den USA, die durch große Teile auch der weißen Bevölkerung moralische und materielle Unterstützung erfährt.

Zwar wurde auch diesmal am 19. Januar der Martin-Luther-King-Nationalfeiertag von offizieller Seite mit Pomp und Gloria begangen. Doch auch das üppigste Dekor vermochte die wenigen im Netz verbliebenen Fische nicht als gigantischen Fang zu präsentieren. Weitaus mehr Aufsehen als das Gedöns der Herrschenden lenkte die Entwicklung der neuen Massenbewegung „Black lives matter“ (Schwarze Leben zählen!) auf sich. In diese Form kleidet sich heute der Protest gegen unablässig begangene Gewalttaten der Polizei an afroamerikanischen Mitbürgern, wobei das begangene Unrecht fast immer ungesühnt bleibt.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich offizielle Bemühungen, Martin Luther King in eine mumifizierte Heldengestalt ohne Bezug zum Hier und Heute zu verwandeln, als erfolglos. Die Feierlichkeiten der Obrigkeit wurden diesmal von mehr als 150 gewaltigen Ausbrüchen des Protests weit in den Schatten gestellt. Überall – von Florida bis Colorado – ging es dabei keineswegs nur um die Rechte der Schwarzen und anderer Minderheiten, sondern auch um tiefgreifende soziale Forderungen. In Philadelphia gingen – um nur ein Beispiel zu nennen – Zehntausende für einen Mindestlohn von 15 Dollar auf die Straße.

Mit ihren Transparenten forderten sie die Verteidigung des öffentlichen Bildungswesens für alle Kinder und Jugendlichen gegen den Schwarze und unerwünschte Einwanderer kriminalisierenden Terror der Polizei.

Nicole Sully – eine von etwa 30 Verhafteten – schilderte dem Reporter der portugiesischen KP-Zeitung „Avante!“, was es mit der auch ihr angelasteten symbolischen Blockade von 14 Verkehrsarterien in Metropolen der USA auf sich gehabt habe: „Wir legten sie für 28 Minuten still, um daran zu erinnern, daß in diesem Land alle 28 Stunden ein schwarzer Mitbürger durch Polizeikugeln oder Mißhandlungen willkürlich zu Tode gebracht wird.“

Nicole ist wie die anderen Inhaftierten der Begehung von fünf Delikten angeklagt, auf die bis zu sieben Jahre Freiheitsentzug stehen. Sie reichen von „Ungehorsam gegenüber Behörden“ und „Behinderung des Verkehrs“ bis zur „Störung des öffentlichen Friedens“.

Auch Martin Luther King besaß überaus reiche Erfahrungen mit polizeilicher Repression. Ein Verfechter des gewaltlosen Widerstandes, stellte er sich immer wieder furchtlos den sein Land Beherrschenden entgegen und ließ vor allem auch Streikende niemals im Stich.

1967 brachte er Worte zu Papier, die genausogut heute hätten geschrieben worden sein können:

„Es ist nichts an einem Gesetz zu beanstanden, das uns zwingt, bei einem roten Signal zu stoppen. Aber wenn es irgendwo brennt, dann ignorieren die Feuerwehrleute alle normalen Vorschriften, und es gibt für sie kein Haltesignal mehr. Oder: Wenn ein Mensch in seinem Blute liegt, dann passieren die Rettungswagen jegliche Stopzeichen mit höchstmöglicher Geschwindigkeit. Ein solcher Brand lodert jetzt in den Herzen der Schwarzen und der Armen, die unter den tragischen Bedingungen schrecklicher ökonomischer Ungerechtigkeit leben müssen. Die verelendeten Völker der Welt sind dabei, ihrer nationalen und sozialen Erniedrigung zu entkommen. Wir brauchen Brigaden von Sanitätern, welche die roten Ampeln dieses Systems so lange ignorieren, bis eine rettende Lösung erfolgt ist.“

Diesem Martin Luther King noch am Jahresende 1967 – nur Monate vor seinem Tod – im demokratischen Berlin begegnet zu sein, war ein Glücksfall. Dem leider schon vor vielen Jahren sehr jung verstorbenen Werner Kiehne – einem unvergessenen Freund – und mir hatte das DDR-Außenministerium, in dessen USA-Abteilung wir beide damals tätig waren, einen besonders ehrenhaften Auftrag erteilt: Wir sollten dem aus Westberlin für einen halben Tag in die DDR-Hauptstadt einreisenden Gottesmann erforderlichenfalls jede von ihm erbetene Unterstützung erweisen. Da die MLK eskortierenden Kirchenleute den Gast hermetisch abzuschirmen suchten, hielten wir uns diskret zurück.

In einem der kältesten Jahre des Kalten Krieges wärmte der große Humanist mit seinen beiden bewegenden Predigten in der Marien- und der Sophienkirche nicht nur die christliche, sondern auch unsere atheistische Seele. Nachdem wir zuvor so manchen die DDR besuchenden Genossen der KP der USA und weiteren Vertretern des „anderen Amerika“ unsere Verbundenheit hatten bekunden können, empfanden wir in diesen Stunden nicht weniger Wärme und Hochachtung für einen Mann im schwarzen Talar, dem auch Rote in aller Welt ihre Zuneigung nicht versagten.