RotFuchs 193 – Februar 2014

Sie sagen Stalinismus und meinen Leninismus

Auch Marx im Visier

Siegrid Baumann

Die Begriffe Stalinismus, Diktatur, Terror, Gewalt, Unfreiheit und Unrechtsstaat werden unablässig in den Vordergrund gerückt und mit dem Sozialismus gleichgesetzt. Interessierte Kreise schufen bewußt ein wildes Durcheinander bei Attributen wie links, linksradikal, kommunistisch, sozialistisch oder totalitär. Eine wahre Renaissance erlebt einmal mehr die Debatte um den Begriff „Stalinismus“. Dabei scheint es so, daß Persönlichkeiten wie Stalin in der derzeit „populären“ Geschichtsschreibung generell eine größere Rolle zugemessen wird als Lenin, der die Bolschewiki in die Oktoberrevolution führte. Eine Schrift nach der anderen kommt über Stalin heraus, weit weniger über Lenin.

In der deutschen Politik und Geschichtsschreibung ist der Begriff „Stalinismus“ seit dem Anschluß der DDR an die BRD zu einem der am häufigsten gebrauchten Schlagworte geworden. Ursprünglich bezog er sich ausschließlich auf die Sowjetunion und den Machtmißbrauch durch und unter Stalin sowie das von ihm und anderen geprägte zentralistische Sozialismus-Modell. Inzwischen wird er immer stärker von den Gegnern des Sozialismus zur Diffamierung aller linken Bestrebungen unter bewußter Verdrehung und Verwässerung exakter Termini mißbraucht, um das angeblich undemokratische, ja sogar verbrecherische Wesen des Kommunismus darzustellen. Besonders beliebt ist es, Lenin als Ausgangspunkt oder Verursacher des „Stalinismus“ vorzuführen.

Der Dokumentarfilm „Stalins Tod“, den die ARD im Rahmen ihrer Rubrik „Geschichte im Ersten“ anläßlich der 60. Wiederkehr des Ablebens des langjährigen Führers der Sowjetunion präsentierte, paßte sehr gut in den Sensationsjournalismus unserer Tage. Nicht jedem wird übrigens eine solche „Ehre“ zuteil. Stalins Part kommt manchen im Kontext der „Aufarbeitung“ der Geschichte der DDR sehr zupaß. Mit ihm läßt sich die Idee des Sozialismus/Kommunismus besonders wirkungsvoll verunglimpfen. Stalin erscheint in dem erwähnten Film auf seltsame Weise von den historischen Ereignissen abgekoppelt. Die Sensation, auf seiner Datsche, wo er auch gestorben ist, gedreht zu haben und die Aussagen von Zeitzeugen, eines Doubles und des Sohnes von Chruschtschow stehen im Vordergrund. Vermittelt wird, daß Stalin groß gewesen sei, weil er den Zweiten Weltkrieg gewonnen und sein Land zur Weltmacht geführt habe. Vor allem aber, weil man ihn als einen großen sozialistischen Diktator betrachten müsse. Das paßt hervorragend in die Unrechtsstaatsdiskussion über den Sozialismus.

Durch den oftmaligen Vergleich Stalins und Hitlers wird unterstellt, der Sozialismus sei ebenso verbrecherisch wie der deutsche Faschismus gewesen. Das ist eine bestimmte Art von Geschichtsschreibung, welche die Stalin zugeordneten Verbrechen bei der Betrachtung des Sozialismus in den Mittelpunkt stellt.

Diese Kanonade wird auch von „Reformern“ – zuerst in der PDS, nun in der Partei Die Linke – gegen die nach ihrer Meinung noch nicht in der BRD Angekommenen oder „in Linientreue“ zur Sowjetunion und zur DDR verharrenden Genossen gerichtet. Sie werden nicht nur als Stalinisten, sondern nunmehr sogar als Leninisten etikettiert, was eine Verunglimpfung sein soll. Dabei treffen sich eigentlich konträre Tendenzen – konservative Rechte und „linke Reformer“. Inzwischen gibt es nämlich eine starke Annäherung, wenn nicht sogar Übereinstimmung beider Positionen. Da fragt man sich, was daran noch „links“ sein soll.

Während Jörg Baberowski in seinem vom Beck Verlag herausgebrachten Buch „Verbrannte Erde“ die Darstellung des „Stalinismus“ bei den Bolschewiki – in dürftiger Kürze – beginnt und über Lenin wie die Oktoberrevolution nahezu hinweggeht, gibt es dort keine einzige Literaturangabe zu ihm. Noch deutlicher ist das in Wolfgang Ruges „Lenin – Vorgänger Stalins. Eine politische Biographie“, wobei bereits der Titel den ganzen Inhalt verrät. Da ist von der angeblichen Realitätsferne und dem „Wunschdenken eines Mannes, der nur über höchst unvollkommene Kenntnisse in der Staatsführung, in der Wirtschaftsorganisation und in der Verwaltungstechnik verfügt“, die Rede. Michael Brie, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schloß sich dem in seinen neuesten Ergüssen an. Er ging sogar noch weiter, indem er den „Stalinismus“ ganz ausließ und erklärte: „Als ich gebeten wurde, zum Thema ‚Bruch mit dem Stalinismus als System‘ zu sprechen, habe ich vorgeschlagen, den Terminus Stalinismus durch Leninismus zu ersetzen.“ Nach seiner Auffassung sei „eine sozialistische Demokratie … nur möglich, wenn auch der Sozialismus eine plurale Eigentumsgrundlage erhält. Lebensfähig kann er nur sein, wenn er nicht nur eine freie Assoziation der Individuen, sondern eine Assoziation von wirtschaftlichen Unternehmungen ist, die wirtschaftsdemokratisch kontrolliert werden.“

Hatten wir das nicht schon? Das Ganze erinnert an Gorbatschow. Brie ist sich nicht zu schade, an diesen, der inzwischen sogar von seinen imperialistischen Fürsprechern in den Schatten gedrängt wurde, und dessen Glasnost anzuknüpfen, welche die Sowjetunion zum Untergang und Rußland an den Rand des Ruins gebracht hat.

Zu solchen Schlüssen kann man nur kommen, wenn man Demokratie vom eigentlichen Ziel – dem Sozialismus – loslöst und allein vom bürgerlichen Demokratiebegriff ausgeht. Was meint Brie eigentlich bei all dem? „Es gibt … kein Zurück zu Marx und Luxemburg, sondern nur ein Vorwärts zu einem Sozialismus oder Luxemburgismus 2.0.“ Kein Zurück zu Luxemburg, aber vorwärts zum Luxemburgismus? Brie weiß, was das heißt: „Die Geschichte der Linken kann neu begonnen werden. Es wird auf jeden Fall eine völlig neue Geschichte.“ Welche Vermessenheit!

Wichtige Ereignisse, Perioden von Bedeutung haben stets ihre Spuren hinterlassen. Die DDR war ein solcher bemerkenswerter historischer Vorstoß, der am Ende zwar fehlschlug, aber tiefe Spuren gegraben hat. Das Allerwichtigste: Sie und ihre Bruderstaaten haben bewiesen, daß der Sozialismus funktionieren kann, daß es geht. Man muß nur den Fernseher einschalten, dann wird man ohne Unterlaß an die DDR, häufig zur gleichen Zeit auf verschiedenen Kanälen, erinnert. Statt entnervt abzuschalten, bricht sich bei vielen ein befreiendes Lachen Bahn: Die können ohne uns nicht auskommen! „Brie ist offenkundig angesichts der vielgestaltigen Marx-Renaissance unserer Tage zutiefst beunruhigt“, schrieb Götz Dieckmann dazu in seinem höchst lesenswerten Beitrag, den der „RF“ im August 2013 brachte.