RotFuchs 210 – Juli 2015

Warum der VEB Geräte- und Regler-Werke Teltow mein Betrieb war

Augenzeugenbericht eines Enteigneten

Gerd-Dieter Lehmann

Im VEB Geräte- und Regler-Werke „Wilhelm Pieck“ Teltow fanden 12 000 Werktätige, davon 8000 am Hautstandort des Betriebes, Lohn und Brot. 1948 wurde Askania wie alle größeren kapitalistischen Unternehmen auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone in Volkseigentum überführt. Der neue Name lautete VEB Mechanik Askania Teltow. An dessen Stelle trat 1954 die jahrzehntelang beibehaltene Bezeichnung VEB Geräte- und Regler-Wer-ke Teltow (GRW). Ihm wurde 1962 durch Beschluß des Volkswirtschaftsrates die landesweite Verantwortung für die Betriebs-, Meß-, Steuer- und Regelungstechnik übertragen.

Damit war unser Betrieb das Zentrum der gesamten Automatisierungstechnik der DDR.

Die im Werk Tätigen waren keine „Arbeitnehmer“, weil sie Arbeit nicht nahmen, sondern ein Recht darauf hatten, sie zu erhalten. Diese verfügte nämlich über eine durch Volksabstimmungen legitimierte Verfassung und kein von Besatzern diktiertes Grundgesetz wie die BRD, das 1990 auf das annektierte Gebiet im Osten ausgedehnt wurde. In unserer Verfassung hieß es im Artikel 24 Ziffer 1: „Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. Er hat das Recht auf Lohn nach Qualität und Quantität der Arbeit. Mann und Frau, Erwachsene und Jugendliche haben das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung.“

Der Arbeitslohn war indes nur ein Teil des tatsächlichen Einkommens der DDR-Bürger. Nicht ohne Grund sprach man von einer „zweiten Lohntüte“, in der sich – gemessen an der heutigen gesellschaftlichen Realität – nahezu unvorstellbare Dinge befanden. Neben den subventionierten Mieten und Lebensmitteln (ein Brötchen kostete bis 1990 fünf Pfennige!) gab es ein gebührenfreies Bildungssystem, das weltweit seinesgleichen suchte, eine unentgeltliche gesundheitliche Betreuung und das Recht auf umfassende Teilhabe am kulturellen Leben. Daß Arbeiter regelmäßig ins Theater, in die Oper oder in Konzerte gingen, galt als normal. Sämtliche Eintrittspreise für Kultur- und Sportveranstaltungen wurden staatlich subventioniert.

Was in der Verfassung stand, war jeden Tag erlebbare gesellschaftliche Wirklichkeit:

„Jeder Bürger der DDR hat das gleiche Recht auf Bildung.“ (Art. 25.1)

„Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft.“ (Art. 35.1)

„Alle Bürger haben das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben.“ (Art. 25.3)

Zur „zweiten Lohntüte“ gehörten außer den staatlich geförderten Leistungen im gesamtgesellschaftlichen Leben auch die Kultur- und Sozialfonds der Betriebe. Bei uns im GRW Teltow sah das so aus:

Es gab eine betriebseigene Kinderbetreuung, die zwischen 6 und 18 Uhr geöffnet war.

Wir verfügten über ein betriebseigenes Kinderferienlager und Urlaubsplätze quer durch die Republik, die sehr begehrt waren.

Unserem Betrieb stand ein eigenes Wohnraumkontingent zur Verfügung.

Zum GRW gehörte das Stadion der Metallarbeiter, wo vom Fußball bis zum Fechten mehr als 30 Sportarten betrieben wurden, ohne daß die Teilnehmer dafür etwas bezahlen mußten. Eine Asphaltkegelbahn kam hinzu. Regelmäßig wurden Betriebssportfeste durchgeführt, die für jedermann zugänglich waren.

Im Betriebskulturhaus fanden Monat für Monat etliche Veranstaltungen – von Kabarettabenden über Kollektivfeiern bis zum Preisskat – statt. Seine beiden Leiter bezahlte der VEB.

In der Betriebsambulanz betreuten neben Allgemeinmedizinern und dem Dentisten auch Fachärzte die Werktätigen. Eine Sauna gehörte natürlich dazu. In den Betriebskantinen wurden außer Getränken, Kuchen und Imbiß auch warme Speisen angeboten. Ein „Stammessen“ kostete 70 Pfennige, die beiden „Wahlessen“ zwischen 1,20 und 1,60 Mark der DDR.

Neben einem Blasorchester, dem Arbeitertheater und dem Kabarett bestanden etliche Arbeitsgemeinschaften, so für Fotografie und Textilgestaltung. Ein besonderes Renommé besaßen der Zirkel schreibender Arbeiter, die Singegruppe und unser Chor.

In der Bibliothek konnte man bei der unentgeltlichen Ausleihe zwischen mehr als 8000 Büchern, Grafiken und Bildern wählen.

Auf dem Betriebsgelände befanden sich eine Lebensmittel- und eine Textilverkaufsstelle.

Monatlich gab es mindestens eine Jugendtanzveranstaltung, die in einer der Betriebskantinen stattfand. Unser Fasching erfreute sich weit über die Grenzen des GRW Teltow hinaus großer Beliebtheit.

Die betriebliche Berufsschule bildete ca. 200 Lehrlinge aus, so daß jährlich etwa 70 junge Menschen in das Arbeitsleben eintraten. Es versteht sich, daß alle, die ihren Abschluß hatten, im eigenen Werk oder anderen volkseigenen Betrieben unterkamen.

Die bei uns tätigen Frauen erhielten auf gesetzlicher Grundlage wie überall in der DDR monatlich einen bezahlten Haushaltstag.

Betriebsangehörige, die wegen Ableistung des Wehrdienstes, Schwangerschaft oder aus anderen Gründen längere Zeit abwesend sein mußten, besaßen bei Wiederaufnahme der Tätigkeit Anspruch auf ihren Arbeitsplatz.

Ehemalige Mitarbeiter des GRW wurden als Rentner (Senioren) durch die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) betreut.

Das Wichtigste aber war: Die GRW „Wilhelm Pieck“ in Teltow waren ein volkseigener Betrieb. Dazu hieß es in der Verfassung: „Die Volkswirtschaft der DDR beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln.“ (Art. 9.1).

„Das sozialistische Eigentum besteht als gesamtgesellschaftliches Volkseigentum, als genossenschaftliches Eigentum werktätiger Kollektive sowie als Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger.“ (Art. 10.1)

Deswegen war der Teltower Standort des GRW Teltow mein Betrieb und der von 7999 weiteren Kolleginnen und Kollegen.

Nun ist Papier bekanntlich geduldig, und beim Gedanken an den Artikel 1 des Grundgesetzes kann ich gar nicht so viel essen, wie ich wieder von mir geben möchte. Formulierung und Wirklichkeit sind bisweilen zwei völlig verschiedene Dinge.

Damit mir aber heute mein Mittagessen schmeckt, kehre ich rasch wieder in die DDR und zu deren VEBs zurück.

„Die DDR garantiert allen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte und ihre Mitwirkung an der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung“, hieß es im Artikel 19.1 der Verfassung.

Konkret: Die Werktätigen arbeiteten bei uns in Kollektiven, die in der Produktion Meistern und Brigadieren unterstanden. Auf diese Weise vollzog sich die Zusammenarbeit der staatlichen Leitung mit den Interessenvertretern der Werktätigen. Bei uns sah das zum Beispiel so aus: Das Jugendkollektiv „Lunochod II“ des Schrankbaus arbeitete im Drei-Schichten-Rythmus. Dort war es zu einer bequemen Angewohnheit geworden, den Schichtwechsel nicht mehr wie üblich am Arbeitsplatz, sondern in der Garderobe vorzunehmen, was auf Vergeudung von Arbeitszeit hinauslief. Daher ordnete der Hauptabteilungsleiter an, sofort zur früheren Praxis zurückzukehren, wobei er die Gewerkschafts- und die FDJ-Leitung seines Bereichs überging. Das Kollektiv beschwerte sich, worauf der Leiter seine Entscheidung zurückzog und sich bei den Arbeitern entschuldigte. Im Ergebnis einer Versammlung des Jugendkollektivs unter Teilnahme der staatlichen Leitung, der Vertreter der Gewerkschaft und des Jugendverbandes verpflichteten sich die „Lunochods“ freiwillig, künftig den Schichtwechsel am Arbeitsplatz durchzuführen.

Ein anderes Beispiel: Eine hochschwangere Jugendliche des Prüffeldes in der Hauptabteilung Schrankbau hatte ein unerfreuliches Erlebnis in der betrieblichen Wohnraumlenkung. Deren Leiterin erklärte der werdenden Mutter, die bereits ein Kind zur Welt gebracht hatte, auf deren Schilderung ihrer beengten Wohnverhältnisse kaltschnäuzig, sie hätte sich früher überlegen sollen, ob sie sich ein zweites Kind „anschaffe“ oder nicht. Daraufhin begab sich die junge Frau kurz entschlossen zum Sekretär der FDJ-Abteilungsorganisation „Angela Davis“ und schilderte ihm das Gespräch. Zwei Stunden danach war die Leiterin der Wohnraumlenkung abgelöst. Drei Tage später erhielt die Schwangere die Zuweisung einer größeren Wohnung.

„Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“, lautete Artikel 38.1 der Verfassung der DDR.

Wenn Kollegen von „meinem Betrieb“ sprachen, dann taten sie das wegen all des bisher Beschriebenen. Sie dachten dann sicher nicht an die Vorgaben der Verfassung und die Tatsache, daß es im Lande keine Arbeitslosigkeit gab. Das war für sie so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche.

Das Eigentümerbewußtsein der DDR-Bürger beruhte auf einer tiefen Verbundenheit mit ihrem Kollektiv, der jeweiligen Brigade und letztlich auch dem Betrieb.

Dem erklärten Ziel des sozialistischen Staates, die Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis aller zu entwickeln, war man bereits ein gutes Stück näher gekommen. Das Arbeitskollektiv galt bei der Mehrheit der Werktätigen längst als zweites Zuhause. Hier fühlte man sich wohl, konnte über alles reden, verbrachte einen Teil der Freizeit miteinander. Auch so manche Liebe mit oder ohne Trauschein hatte dort ihren Ursprung.

Die DDR war ein Land der Pläne auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen. So gab es bei uns im GRW neben den betriebswirtschaftlichen Planvorhaben, die unter maßgeblicher Mitverantwortung der Gewerkschaft entstanden, einen Frauenförderungsplan und einen Jugendförderungsplan.

Ein Beispiel: Im Jugendkollektiv „Werner Seelenbinder“ arbeiteten zwei Frauen ohne Facharbeiterabschluß, was für sie nur die Lohngruppe 4 bedeutete. Da beide aber seit Jahren die Leistungen von Facharbeitern erbrachten, wurden sie auch ohne Facharbeiterbrief in deren Lohngruppe 5 eingestuft. Das entsprach dem sozialistischen Leistungsprinzip. Für seine praktische Umsetzung sorgte in diesem Falle der Frauenförderungsplan. Zweimal jährlich fanden bei uns Vertrauensleute-Vollversammlungen und einmal im Jahr eine FDJ-Delegiertenkonferenz statt. Dort legte der Betriebsdirektor über alle Fragen der Entwicklung des Werkes – von der Planerfüllung bis zur Arbeit seines hauptberuflichen Jugendbeauftragten – Rechenschaft ab. Bei solcher Gelegenheit wurde lebhaft diskutiert und freimütig kritisiert. Darüber hinaus hatten alle Mitarbeiter jederzeit das Recht, sich unmittelbar an den Betriebsdirektor zu wenden, um im persönlichen Gespräch ihre Anliegen zu klären. Die Kündigung eines Werksangehörigen ohne Einwilligung der Gewerkschaft hatte in der DDR keine Rechtsgültigkeit. Fristlose Kündigung wegen einer Lappalie oder der Offenbarung des eigenen Verdienstes gegenüber Dritten, wie heutzutage üblich, waren schon vom Ansatz her undenkbar.

Dies alles – und ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit meiner Schilderung – veranlaßt mich dazu, aus voller Überzeugung den VEB Geräte- und Regler-Werke Teltow als meinen Betrieb zu betrachten.

„Die Bodenschätze, die Bergwerke, Kraftwerke, Talsperren und großen Gewässer, die Naturreichtümer des Festlandsockels, Industriebetriebe, Banken und Versicherungseinrichtungen, die volkseigenen Güter, die Verkehrswege, die Transportmittel der Eisenbahn, der Seeschiffahrt sowie der Luftfahrt, die Post- und Fernmeldeanlagen sind Volkseigentum. Privateigentum daran ist unzulässig“. So stand es in der Verfassung der DDR. Dem entsprach auch die Verfassungswirklichkeit.

Von all dem wurde das Volk der DDR durch jene befreit, welche in der BRD das Sagen haben: das Großkapital in den Konzernen, Banken und Versicherungen.

Ein Raubzug nie gekannten Ausmaßes von Deutschen an Deutschen hat unter der Flagge von Freiheit und Menschenrechten stattgefunden. Was die Freiheit betrifft, so verhält es sich durchaus im Sinne von Marx: Die Werktätigen der DDR wurden wieder zu „doppelt freien Lohnarbeitern“. Sie sind juristisch ebenso frei wie frei von Produktionsmitteln.

Nicht wenigen Arbeitern wurde die „Ehre“ zuteil, ihre eigenen Betriebe abreißen zu dürfen. Als ABM-Kräfte erhielten sie eine schlechtbezahlte Lektion über die Bundesrepublik Deutschland, in der angeblich alle Macht vom Volke ausgeht.