RotFuchs 188 – September 2013

Aus Eddas Blickwinkel:
Der verschandelte Alex

Edda Winkel

Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich der Berliner Alexanderplatz in fünfzig Jahren verändert hat!

Aufgeregt und frierend warteten wir kurz nach Mitternacht auf dem Rostocker Hauptbahnhof, um nach Berlin zu fahren. Wir – das waren die Schüler einer elften Klasse. Nach stundenlanger Fahrt kamen wir in Lichtenberg an und quetschten uns dort in die volle S-Bahn. Vom Berliner Tempo wußten wir nichts. So war es kein Wunder, daß einige Schüler auf dem Bahnsteig stehenblieben.

Der Alexanderplatz war eine öde Fläche, die Trümmerfrauen hatten ihn gerade erst vom Kriegsschutt befreit, nur an das beschädigte Alexander- und das Berolinahaus erinnere ich mich, auch an endlose Wege, die zu bewältigen waren. Wir sahen uns die Neubauten der Stalinallee an, besuchten das Museum für Deutsche Geschichte und den Berliner Weihnachtsmarkt.

Ich staunte über die erste Leuchtreklame meines Lebens, verdrückte gierig eine lebensmittelmarkenfreie Riesendampfwurst und fuhr mit dem Kettenkarussell. Zuletzt wurde ich, inzwischen waren wir fast vierundzwanzig Stunden unterwegs, von zwei Klassenkameraden untergehakt und vorwärtsgeschleift, weil ich im Gehen vor Erschöpfung fast einschlief. Meine zweite Begegnung mit Berlin hatte ich im August 1961. Wegen der gerade erfolgten Grenzschließung durften wir auf der Fahrt nach Polen den Ostbahnhof nicht verlassen und sahen den Alex nur vom fahrenden Zug aus. Keine wesentlichen Veränderungen!

Als ich vier Jahre später nach Berlin zog, war der erste Neubau am Alexanderplatz, das Haus des Lehrers, gerade fertig geworden und strahlte mit seiner Womacka-„Bauchbinde“ in die Runde. Ich aber schlug mich mit der etwas schnoddrigen Art der Berliner herum. Ein halbes Jahr lang dachte ich, hier bleibst du nicht! Besonders einige kesse Schüler waren mir eine Plage. Dann aber gewöhnte ich mich an ihre vorwitzige Art und hatte gewonnen, als es mir gelang, allzu dreiste Redner mit frechen Sprüchen zu verblüffen.

Der Alex aber entwickelte sich zum zentralen Platz der Stadt, kreuzungsfrei und mit Anbindungen an die wichtigsten Straßenachsen in alle Himmelsrichtungen, gesäumt vom Kuppelbau der Kongreßhalle, dem Haus des Reisens und dem Fernsehturm. Wie eine riesige Schnecke mutete von dort oben der freie Platz mit seinen Gehplatten, der Rundbank und dem Brunnen der Völkerfreundschaft an. Wie die Weltzeituhr war er ein beliebter Treffpunkt für Berliner und Auswärtige. Einmal wartete ich dort allerdings vergebens auf meinen Mann, während der wütend auf der anderen Seite des S-Bahnhofs am Neptunbrunnen stand. Wer hatte bei der Verabredung nicht richtig zugehört?

Während der Weltfestspiele 1973 schob ich den neugeborenen Sohn im Kinderwagen über den Alex. Der Platz war ein blaues, wogendes, singendes Meer. FDJler überall und dazwischen lachende Menschen aus aller Welt, viele in Nationaltracht. Die Chilenen beeindruckten mich besonders. Sie erfüllte Hoffnung, weil in ihrem Land Allendes Sozialisten durch Wahlen ans Ruder gekommen waren. Victor Jaras Siegeslied „Venceremos“ hing über dem Platz, erklang immer wieder!

Vier Wochen dauerte die Rückreise der Chilenen mit dem Schiff. Doch am 11. September fand in Santiago ein faschistischer Militärputsch statt. Die Heimkehrenden wurden sofort abgefangen, in Stadien zusammengetrieben, gefoltert und viele von ihnen getötet. Wir weinten, als wir die Kunde vom schrecklichen Ende Victor Jaras erhielten.

Am 4. November 1989 war ich mit mehr als einer halben Million Menschen wieder auf dem Alex.

Ostberliner Kulturschaffende hatten zu einer Kundgebung „für Reformen und Demokratie, für unser Land“ aufgerufen. Unter den vielen Rednern sah man Christa Wolf, Stefan Heym, Markus Wolf, Friedrich Schorlemmer, Gregor Gysi. Was wir indes nicht ahnten: Wir bekamen nichts für unser, wir bekamen ein anderes Land, nicht Reformen, sondern „Begrüßungsgeld“. Wir erlebten nicht Demokratie, sondern wurden einfach abgewickelt. Im „Rechtsstaat“ gelandet, kannst du dein Recht einklagen, allerdings mußt du gut bei Kasse sein.

Auf dem heutigen Alex mästet sich das Geld in häßlichen Konsumpalästen. Mühsam suchen die Touristen nach bekannten Motiven, doch immer wieder versperrt ihnen ein anderer Betonklotz gieriger Investoren die Sicht. Den weiten schönen Platz von einst gibt es nicht mehr. Straßenbahnen schieben sich langsam über das Areal, Menschen hasten achtlos aneinander vorüber, gehen ihren Geschäften nach, Bettler belagern die Ecken, Drogen wechseln den Besitzer, Obdachlose bevölkern mit ihren Hunden die Unterführungen, Taschendiebe und Hütchenspieler ergaunern sich ihr Stück vom Kuchen.

Trübe Aussichten! Ein trauriger Anblick!

Indes: Die Kongreßhalle existiert immer noch. Sie steht sogar unter Denkmalschutz. Den Betreibern ist es gelungen, sie zu modernisieren, ohne daß sie dabei ihren Charakter verloren hat. Die bunten Mosaikfenster der Lichthöfe in dem zu Konferenzräumen umgebauten Kellergeschoß erinnern mich nicht mehr an jenen Lagerraum, in dem unsere Chorkleidung einst aufbewahrt wurde, aber an zahlreiche erfolgreiche Auftritte des Lehrerensembles jener Tage. Wir sind noch da und unser schönes vertrautes Haus am Alex auch!