RotFuchs 226 – November 2016

Die NATO-Strategie ist weder neu noch erfolgversprechend

Beobachtungen in Afghanistan

Dr. Matin Baraki

Auf meiner Reise nach Afghanistan im Frühjahr dieses Jahres begegnete mir schon während der Bahnfahrt zum Flughafen Frankfurt/M. das afghanische Elend. Ein Landsmann, der seit über 16 Jahren als Flüchtling in der BRD lebt, war auf dem Weg zu seiner Arbeit. „Was machen Sie?“, fragte ich ihn. „Ich bin in einem Internet-Café beschäftigt, doch mein Lohn reicht nicht für mich und die Unterstützung meiner Familie, die immer noch in der ostafghanischen Provinz Laghman lebt.“

Was wird aus ihr, aus den über 3000 ausgebeuteten Kindern in Torkham am Khaiberpaß? Sie sind die ersten, welche ich bei meiner Ankunft an der afghanisch-pakistanischen Grenze antreffe. Sie schieben vollbeladene Holzkarren von einem Land ins andere für ein paar Afghani bzw. pakistanische Kaldar.

Nicht ohne Grund verlassen Tausende Menschen das Land. Diesen Sklavenkindern am Khaiberpaß wird kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun helfen. Sie werden schuften bis zum Umfallen, um ihre Familien und sich selbst am Leben zu erhalten.

Keines von ihnen wird je eine Schule kennenlernen, die ohnehin Mangelware sind. „Geisterschulen“ nennt man sie, da sie lediglich auf dem Papier existieren. Mehr als 700 Schulen sind wegen mangelnder Sicherheit geschlossen, gibt ein Sprecher des Bildungsministeriums in Kabul zu. Das Bildungsniveau sowohl der Schüler als auch der Lehrkräfte ist sehr niedrig. Über sieben Prozent der Lehrkräfte haben nicht einmal Abitur, geschweige denn eine pädagogische Ausbildung. Außerdem fließen die vom Ausland gespendeten Gelder für den Unterhalt von Schulen in die Taschen korrupter Bürokraten.

Seit dem Einmarsch der US-Armee im Jahre 2001 ist auch das afghanische Bildungswesen amerikanisiert. Private Schulen und Hochschulen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Gründung solcher Einrichtungen ist zur lukrativen Geldwäsche von Korruption und Drogeneinnahmen geworden.

Abhilfe durch die Kabuler Administration ist nicht zu erwarten. Diese ist mit sich selbst und nach über zwei Jahren noch immer mit der Verteilung der Posten beschäftigt. Jedes Mitglied des Kabinetts will so viele eigene Anhänger und Verwandte plazieren wie irgend möglich. Daß das so wichtige Verteidigungsministerium seit Jahren kommissarisch geleitet wird, sei weltweit einmalig, hatten sich Parlamentsabgeordnete beschwert.

In Gesprächen hört man immer wieder, daß in erster Linie die vom Ausland eingesetzte Elite, der es um ihre Machtabsicherung und ihre lukrativen Geschäftsinteressen geht, das eigentliche Problem ist. Sie ist größtenteils durch Bestechung, Stimmenkauf und Wahlfälschungen zu ihren Posten gekommen. Dadurch hat sie sich selbst delegitimiert.

Wahlen sind die Menschen am Hindukusch inzwischen mehr als überdrüssig. Es kämen ohnehin nur Warlords, deren Gefolgschaft, korrupte Politiker sowie Ameriko- und Euroafghanen ins Parlament.

„Das Haus des Volkes ist das Haus der Niederträchtigkeit“, sagte ein Bürger vor laufender Kamera. „Mit dem Geld für die Wahlen und späteren Diäten der Abgeordneten könnten Schulen und Krankenhäuser errichtet werden, damit die Menschen zur Behandlung nicht nach Pakistan gehen müssen.“ Es sollten Arbeitsplätze geschaffen werden, um die Jugendlichen nicht in die Migration zu treiben, lautet die Forderung der darbenden Menschen. Würde es so weitergehen, würde Afghanistan faktisch entvölkert. Die Jungen, die gut Ausgebildeten gehen weg. Es bleiben die Armen, die Alten, die Warlords, die Kriegsverbrecher und eine durch und durch korrupte Administration. Unterdessen verschlechtert sich die Sicherheitslage täglich.

Die 350 000 Mann starke, von der NATO ausgebildete Kampftruppe ist reine Fiktion. Mir Ahmad Joiendah, Stellvertreter der Untersuchungskommission zur Lage der Sicherheitskräfte, sprach von „Phantasie-Soldaten“, die gar nicht existieren, für die aber Verteidigungsministerium und regionale Machthaber fleißig Geld kassieren. Hinzu kommt, daß die großen Verluste bei den Sicherheitskräften stark demoralisierend auf die Rekruten wirken. 2015 wurden jeden Monat mehr als 500 Soldaten und Polizisten getötet. Statistisch gesehen hat die Nationalarmee damit jeden Tag 22 Soldaten im Krieg verloren.

Seit 2009 sind nach UN-Angaben 59 000 Zivilisten am Hindukusch getötet oder verletzt geworden. Besonders stark stiegen die Opferzahlen unter Frauen mit 37 % auf 1246 Tote und Verletzte, unter den Kindern um 14 % auf 2829. Damit sei fast jedes vierte Opfer ein Kind, meldete die Menschenrechtsabteilung der UN-Mission. Darüber hinaus wurden vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) Zahlen veröffentlicht, wonach bis März über 81 445 neue Binnenflüchtlinge zu registrieren waren. Ab März 2017 werden noch 1,5 Millionen aus Pakistan ausgewiesene Afghanen dazukommen.

Nach einer Meldung von Tolo-TV haben die Taliban in den Jahren 2015/2016 insgesamt 9827 bewaffnete Aktionen durchgeführt. Die dramatischsten waren die Besetzung der Stadt Kunduz im Norden und Musaqala in der Provinz Helmand im Süden. Fast vor den Toren Kabuls, in der zentralafghanischen Provinz Ghasni, kontrollieren die Taliban acht Distrikte. Über 30 Distrikte des Landes sind noch immer unter ihrer Kontrolle.

Dies zum Anlaß nehmend, plant Washington, weitere 1000 amerikanische Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Auf der Suche nach einem glaubwürdigen Grund für ihre andauernde Militärpräsenz in Afghanistan haben sich die US-Strategen etwas Neues ausgedacht. Sie begründen sie u. a. mit mangelnder Sicherheit der pakistanischen Atomwaffen. Es bestünde die Gefahr, daß die Taliban Zugang zu den Waffen bekämen. Tatsache ist jedoch, daß Pakistan über 2000 Atomwaffen verfügt, die von 1000 Elitesoldaten bewacht werden. Daher kann ein Zugang der Taliban zu diesen Waffen nahezu ausgeschlossen werden.

Schon 2001 habe ich darauf hingewiesen, daß ein friedliches Afghanistan ohne Beteiligung der bewaffneten und islamisch definierten Opposition keine Chance haben dürfte. Seit klar ist, daß die Opposition militärisch nicht zu besiegen ist, hat der Westen die national gesinnten Taliban entdeckt. Sie hätten, im Gegensatz zu Al Qaida, eine „nationale Agenda“. Man könne sie als Gesprächspartner akzeptieren. Seitdem wird immer wieder versucht, die „gemäßigten“ Taliban in die kolonialähnlichen Strukturen am Hindukusch zu integrieren. Jedoch ohne Erfolg.

Seit Anfang 2016 gibt es einen weiteren Vorstoß, nun durch vierseitige Verhandlungen unter Beteiligung der US-Besatzer, der Kabuler Administration, der pakistanischen Regierung und der Taliban, zu einer politischen Lösung des Afghanistankonfliktes zu kommen. Die VR China ist als vertrauenswürdiger Vermittler von allen Seiten akzeptiert worden. Ende März 2016 sollten direkte Friedensverhandlungen mit den Taliban beginnen, passiert ist aber nichts. Pakistan ist nicht gewillt, zum Frieden in Afghanistan beizutragen, aber auch die eigene Regierung ist zum einen zerstritten und zum anderen völlig orientierungslos.

Die angekündigten Verhandlungen mit den Taliban werden durch Vorbedingungen belastet. Die Administration verlangt, daß diese die afghanische Verfassung und die Rechte der Frauen anerkennen und ihre Waffen niederlegen. Während Präsident Ashraf Ghani die Taliban auffordert, die Rechte der Frauen zu respektieren, kommen in seinem „Reich“ regelmäßig Frauen durch „Dadgahae Sahrai“ (wilde Gerichte) zu Tode. 2015 hat man über 5132 Gewalttaten gegen Frauen registriert, 180 Frauen wurden durch häusliche Gewalt getötet. Da nicht alle Fälle angezeigt werden, muß von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Die NATO-Strategie orientiert nach wie vor darauf, die Taliban zunächst militärisch zu schwächen und sie dann aus der Position der Stärke an den Verhandlungstisch zu zwingen. Diese Strategie ist weder neu noch besonders erfolgversprechend. Zumindest in den letzten Jahren ist sie immer wieder kläglich gescheitert.