RotFuchs 213 – Oktober 2015

Wurde der Sonderparteitag im Dezember 1989
aus dem Boden gestampft?

Berechtigte Zweifel

Klaus Glaser

Politisch in jeder Hinsicht Gleichgesinnten zu begegnen, passiert einem nicht alle Tage. In unserer Gegend sind sie leider Mangelware. Wir gehören zwar noch mit etlichen anderen einer Basisorganisation der Partei Die Linke an, doch die meisten, die früher dabei waren, haben sich entweder aus berechtigten politischen Gründen zurückgezogen oder – ganz überwiegend – mit den „neuen Verhältnissen“ arrangiert. Es ist manchmal nicht zu begreifen, wie schnell früher aktive Genossen, mit denen man das Berufsleben teilte, in seichte Gewässer abdriften konnten. Zu DDR-Zeiten sprach man vom roten Sachsen, jetzt aber ist unsere Region leider überwiegend tiefschwarz.

Eigentlich hätte auch ich schon längst die Segel gestrichen, doch wenn alle Marxisten-Leninisten die PDL verlassen würden – wer soll dann noch darum kämpfen, andere Genossen auf dem richtigen Weg zu halten oder sie dorthin zu führen? Es ist sehr begrüßenswert, daß Genosse Külow, der Vorsitzende des Stadtverbandes Leipzig der Linkspartei, die neue Plattform „Liebknecht-Kreis“ mit engagierten Gleichgesinnten gegründet hat. Dabei geht es um die Rückkehr zu einer wirklich kämpferischen linken Kraft. Leider bin ich derzeit im Erzgebirgskreis noch der einzige, der dazugehört.

Doch ich will im folgenden eine heikle Frage aufwerfen, die mich schon seit zweieinhalb Jahrzehnten beschäftigt: Wie vollzogen sich eigentlich das Ende der SED und der Übergang zur PDS, aus der später die PDL hervorging?

Die Vorgeschichte will ich dabei außer acht lassen und einfach im Spätherbst 1989 beginnen. Am 3. Dezember jenes Jahres trat das Zentralkomitee der SED plötzlich geschlossen zurück. Doch schon am 8. Dezember konnte ein Außerordentlicher Parteitag der SED, der dann die Umbenennung beschloß, eröffnet werden. Die Beratung habe – heißt es – einer zentralen Forderung der Parteibasis entsprochen. Das dürfte stimmen. Mir ist jedoch unklar: Wer hat in den fünf Tagen zwischen der Demission des ZK und dem Parteitagsbeginn all die Vorbereitungen für dieses große Ereignis getroffen? Reichte die Zeitspanne dazu aus oder arbeitete etwa schon lange zuvor irgendeine inoffizielle Arbeitsgruppe hinter dem Rücken des noch bestehenden Führungsgremiums der Partei? Plötzlich – nach fünfmal 24 Stunden – traten nicht weniger als 2714 Delegierte zusammen. Wo wurden sie von wie vielen Grundorganisationen der Partei gewählt? Trotz aller Nachforschungen konnte ich in meinem gesamten Umfeld keine Genossen ausfindig machen, die zu diesem Kongreß statutengerecht entsandt worden wären. Auffälligerweise finde ich in den Dokumenten der Beratung auch keine Aussage zur Arbeit einer Mandatsprüfungskommission, die erklären könnte, wer damals in wessen Namen im Saal gesessen hat. Ist denn auch mit Sicherheit festgestellt worden, daß sich am Beratungsort des Außerordentlichen Parteitags wirklich nur Genossen befanden, die in ihrem jeweiligen Territorium ein gültiges Mandat erhalten hatten und einen entsprechenden Delegiertenstatus besaßen? Natürlich soll hier von den „Gästen“, zu denen die unter dramatischen Umständen abgewählten Mitglieder der alten Führung gehörten, nicht die Rede sein.

Man muß sich weiter vorstellen: Innerhalb der zur Verfügung stehenden fünf Tage mußten der Saal bestellt und hergerichtet, Quartiere für Tausende beschafft und Reden wie Beschlüsse vorbereitet werden. Für mich ist all das schleierhaft. Es kann sich wohl nur so verhalten haben, daß die Karten schon längst gemischt worden waren. Wer hat da kräftig in die Speichen gegriffen, um das Rad in die von einer neuen Mannschaft gewünschte Richtung zu drehen?

Man rufe sich jene Zeit ins Gedächtnis: Da wurden der Situation entsprechende Reden vorgetragen, passend und abgestimmt auf das, was manche vorhatten – also schon für die Zeit danach. Prompt wurden ein neues Programm und Statut vorgelegt. Alles war bis ins letzte Detail vorbereitet – auch die Überlegung, die Betriebsgruppen der Partei zu liquidieren und damit die Leinen zur Arbeiterklasse zu kappen. Alles funktionierte wie ein Uhrwerk. Und das nicht nur in kürzester Frist, sondern auch mit dem Wissen, daß in absehbarer Zeit in der DDR Volkskammerwahlen stattfinden würden. Diese standen dann bereits unter der gegnerischen Hauptlosung „Freiheit statt Sozialismus“.

Wer steuerte in der Berliner Dynamohalle das Geschehen, und wer leistete dem nun eingeschlagenen Kurs der Abkehr vom Marxismus-Leninismus Vorschub? Jene, welche den Führer der Oktoberrevolution unter den Vorvätern der Partei handstreichartig durch Bernstein ersetzten? Waren da nicht bereits ganz andere Kräfte am Werk? Damals wurden doch so viele Akteure eingekauft. Wenn man im Sinn hatte, die DDR als sozialistischen Staat preiszugeben, warum sollte man dann ausgerechnet die führende Partei unangetastet lassen?

Mir sind noch viele andere Dinge unklar, wobei ich ja selbst hätte merken müssen, ob damals tatsächlich überall Versammlungen einberufen wurden, um Delegierte des Parteitags zu wählen. Oder vollzog sich all das unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit, ja Geheimniskrämerei?

Am 8. Dezember 1989 hatte Herbert Kroker, ein ehemaliger Generaldirektor, den Parteitag eröffnet. Ihm hätte ich – damals selbst Direktor für Materialwirtschaft im Volkseigenen Kombinat Haus- und Küchengeräte Schwarzenberg – gerne einmal „ein paar dumme Fragen“ gestellt.