RotFuchs 217 – Februar 2016

Blieb der Sozialismus in der UdSSR beim Rüstungswettlauf auf der Strecke?

Hermann Jacobs

In bezug auf die im Oktober-„RotFuchs“ vertretene These, die Sowjetunion habe sich „im Verlauf von Jahrzehnten zersetzt“, bin ich zu folgenden Überlegungen gelangt.

Die UdSSR sah sich nicht zeit ihres Bestehens, sondern erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Hauptmacht des Imperialismus – den USA – direkt konfrontiert. Das begann mit der Potsdamer Konferenz der Siegermächte. Dort wurde Stalin als Leiter der sowjetischen Delegation durch den neuen USA-Präsidenten Truman, der Roosevelt nach dessen Tod gefolgt war, davon in Kenntnis gesetzt, daß die Vereinigten Staaten eine Bombe „mit großer Sprengkraft“ besäßen. Stalin gab sich äußerlich unberührt. Daß dem aber nicht so war, zeigte sich in seiner sofortigen Anweisung, ein sowjetisches Atomprogramm aufzulegen, um selbst in den Besitz einer solchen Waffe zu gelangen. Die USA forderten also die Sowjetunion heraus, und Moskau reagierte entsprechend. So begann der Rüstungswettlauf, bei dem es bis heute geblieben ist.

Auf der vom 4. bis 11. Februar 1945 in Jalta tagenden Krim-Konferenz der Alliierten der Antihitlerkoalition hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt (Bildmitte) noch keinen Einsatzbefehl für Atombomber seines Landes erteilt.

Wir sollten uns des Charakters dieser besonderen Herausforderung bewußt werden: Die Sowjetunion mußte bei Strafe des Untergangs von nun an zumindest einen Gleichstand in waffentechnischer Hinsicht erreichen. Das Erfordernis, diesen zu wahren oder immer wieder herzustellen, hatte nichts mehr mit dem Niveau der Bewaffnung im Zweiten Weltkrieg zu tun, sondern war etwas qualitativ völlig Neues in der Geschichte von Staaten und Völkern. Die Atombombe als eine bisher unbekannt gewesene Waffe mußte Kontrahenten auf ebenso neue Weise, also auf ganz anderem rüstungstechnischem Niveau herausfordern, als sie das bisher – unabhängig von der Gesellschaftsordnung – je erfahren hatten.

Vermochte die Sowjetunion in diesem Prozeß zu bestehen? Zweifellos hat sie die Prüfung bestanden und das heutige Rußland, das in gesellschaftlicher Hinsicht mit der UdSSR nicht gleichzusetzen ist, aber an deren waffentechnischem Niveau durchaus partizipiert, ganz offensichtlich auch. Es gab in diesem geheimgehaltenen bzw. unbekannt gebliebenen „Wettstreit“ eine Art Stafettenwechsel – mal hatte diese, mal jene Großmacht einen Vorsprung auf dem einen oder anderen Gebiet erzielt. Doch im Prinzip konnte dieser vom jeweiligen Widerpart aufgeholt werden. Es wurde ein geschichtsmächtiger Gleichstand erreicht. So kam es nicht zu einem mit atomaren Waffen geführten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. Rußland. Die Menschheit hat dieser Tatsache ihr Überleben zu verdanken.

Am 6. August 1945 befahl Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman den Nuklearangriff auf die japanische Großstadt Hiroshima, dem 200 000 Einwohner zum Opfer fielen.

Da es sich allein um einen waffentechnischen Gleichstand handelte, steht der Gesellschaftscharakter der beiden Kontrahenten hier zunächst einmal nicht zur Debatte. Die Frage lautet ausschließlich, ob sich einer von ihnen bei der Anstrengung, das Niveau des anderen zu erreichen und aufrechtzuerhalten, ökonomisch erschöpft hat. Die adäquate Vokabel heißt in diesem Fall: totrüsten! Der Grad einer solchen Erschöpfung hat sich seit Beginn der Reagan-Administration ergeben, als die Vereinigten Staaten ihren Rüstungsetat für die kommenden fünf Jahre auf

1,5 Billionen Dollar hochtrieben – fast so viel, wie in den 35 Jahren von 1945 bis 1980 ausgegeben worden war. Für die UdSSR ergab sich eine äußerst brisante Situation. Es war offensichtlich, daß sie zusätzlich zu ihren enormen rüstungstechnischen Anstrengungen die gestellten gesellschaftlichen Ziele nicht zu erreichen vermochte. Sie verzichtete de facto auf das, was sie in dieser Hinsicht nicht mehr zu garantieren vermochte: ihren Anspruch, den Sozialismus weiter zu vervollkommnen, den Kommunismus aufzubauen und so der bestimmende Maßstab für die arbeitenden Klassen des eigenen Landes wie weltweit zu sein. In der Friedensfrage hielt sie stand, in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht lagen die Dinge indes anders. Alles wurde mehr oder weniger auf den Faktor reduziert, den militärischen Widerstand gegen die kapitalistische Hauptmacht und ihr Paktsystem im Interesse der Landesverteidigung und des Weltfriedens zu organisieren.

Es handelt sich hierbei um eine äußerst komplizierte Problematik, über die weiter nachgedacht werden muß. Die Auswirkungen dieser Entscheidung eines bestimmten Kreises in der sowjetischen Führung – denn nicht alle in diesem Gremium haben sie verstanden und geteilt – bestehen bis heute fort. Es handelt sich um ein Ende des Bruchs der Logik in gesellschaftlicher Hinsicht, aber um keinen Bruch unter staatlichen Aspekten.

Die Frage, ob es möglich gewesen wäre, den vor 30 Jahren begonnenen Prozeß umzukehren, ist schwer zu beantworten.

Dieselbe Herausforderung, mit der sich die Sowjetunion konfrontiert sah, ist so nicht auf die USA übertragbar, obwohl auch sie in mancher Hinsicht sicher an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stießen. Doch das kapitalistische System in den USA stand dabei nicht zur Debatte. Noch nicht.