RotFuchs 221 – Juni 2016

DDR-Alltagsgeschichte

Rosemarie Müller-Streisand

DEFA

Als die „Weißenseer Blätter“ (WBl) ein Rezensionsexemplar des Neudrucks von Filmkritiken Karl-Eduard von Schnitzlers aus den Jahren 1955 bis 1960 erhielten, meinten wir auf den ersten Blick: Schade, wieder einmal der Irrtum, die WBl fühlten sich kompetent für Belletristik oder Kunst überhaupt!

Aber natürlich: Wenn Schnitzler etwas neu herausgibt, was er vor fast einem halben Jahrhundert verfaßt hat, ist man schon neugierig, sieht hinein – und ist fasziniert. Genauso fasziniert, wie der Herausgeber Wolfgang Metzger im Vorwort schreibt, „von der Frische, der heute durchaus unüblichen Genauigkeit, der erstaunlichen Aktualität vieler der Kritiken und dem entschieden künstlerisch-politischen Maßstab, mit dem hier kritisiert wird“. Hier lernt man einen ganz anderen Schnitzler kennen als den, den uns heutige Medienpolitik penetrant zu suggerieren versucht: nicht das rote Pendant zum schwarz-braunen Gerhard Löwenthal, sondern einen Fachmann, der ebenso hart sein kann wie einfühlsam (man lese nur die kritische Einschätzung des Drehbuchs von „Schlösser und Katen“), und der drohende Abwege offen anspricht, so zum Beispiel „daß Gegenwartsprobleme bei der DEFA lange Zeit hindurch mit der linken Hand behandelt wurden“, nun aber (1959) „das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen zu sein“ scheint:

„Gegenwartsstoffe um jeden Preis, auch um den ihrer künstlerischen Unzulänglichkeit. Es darf aber nicht vergessen werden, daß Teile des Publikums einen absolut schlechten Film über die LPG weniger der DEFA als vielmehr den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zur Last legen und einen gut gemachten, aber sterbenslangweiligen, weil ungekonnten Aufbaufilm nicht mit der Bemerkung quittieren ,Die wissen anscheinend nicht viel vom Aufbau‘, sondern etwa ,Der Sozialismus ist eben langweilig‘.“ Und vor allem lernt man einen Schnitzler kennen, der durch seine Fähigkeit zur Nuancierung beeindruckt, etwa in der Kritik von „Zwei Mütter“: „Dieser Film zeigt die Problematik und läßt die Lösung halb offen. Ich halte das für zulässig. Mögen wir vor Menschen bewahrt bleiben, die stets und ohne Skrupel sofort naß-forsch die ,richtige‘ Lösung zur Hand haben und voll angemaßter Selbstgerechtigkeit über Gefühle, Entwicklungen, Menschenleben und Menschenschicksale hinweggehen.“ Beeindruckend ist eine Spannweite, die doch nicht in Widersprüche führt. So gefällt ihm „Vergeßt mir meine Traudel nicht“ „wegen der Menschlichkeit, mit der das Thema behandelt wird; denn daß keineswegs immer Recht ist, was richtig ist, oder richtig, was Recht – das darf zwar kein Freibrief für Rechtsbrecher sein, aber es ist eine ernste Mahnung für Bürokraten, die hartherzig auf dem formalen Recht bestehen, auch wenn das Leben einmal gegen einen Paragraphen entscheidet.“ Zugleich aber wird ein „politischer ,Tendenzfilm‘ “ wie „Der Hauptmann von Köln“ eben als solcher gelobt: „Tendenz heißt Richtung, Ziel. Jeder Gedanke, jedes Wort und erst recht jedes Kunstwerk hat eine Tendenz – ob in Klassik, Romantik oder Moderne. Wohin geht die Richtung, welches ist das Ziel? Das sind die entscheidenden Fragen.“

In diesen Besprechungen gibt es keine Tabus außer denen, von denen Bertolt Brecht sprach: „Keine Freiheit für Schriften und Kunstwerke, welche den Krieg verherrlichen oder als unvermeidbar hinstellen, und für solche, welche den Völkerhaß fördern.“

Für einen filmtheoretischen Laien zumindest, der Filme einfach „naiv“ sieht wie zum Beispiel ich, ist zudem der Sachverstand Schnitzlers frappierend, mit dem er ganz differenziert, niemals langweilig und zugleich niemanden (wenn auch möglicherweise Eitelkeiten) verletzend Leistungen ebenso wie Versagen aller einzelnen Elemente der besprochenen Filme beurteilt: von Auswahl der Darsteller, Regie, Kameraführung, Drehbuch bis hin zu Sprache, Maske, Kostüm, Beleuchtung, Musik, und zuerst und zuletzt: die darstellerische Leistung und die Aussage des Ganzen. Man muß diese geradezu spannenden Urteile über DEFA-Filme der fünfziger Jahre, die – abgesehen von ein paar wohlverdienten Verrissen – nicht etwa nur loben oder nur tadeln, sondern Stärken und Schwächen stets konkret und begründet vor Augen führen, gelesen haben, um sich ein Bild von der Kultiviertheit, der Klarheit, der inneren Kraft zu machen, die damals das geistige Leben der DDR in Kunstwerken und in ihrer Kritik bestimmten. Diese DDR war – und das wird hier beeindruckend dokumentiert – einfach ein Staat, in dem man gerne lebte. Schnitzlers großes Verdienst ist, das in Erinnerung gerufen zu haben und zugleich den heißen Wunsch zu wecken, statt des Schunds, den uns heute die (bürgerlichen) Medien – in ihren Produktionen und deren Kritik – zumuten, doch noch einmal etwas vom Niveau damaliger DEFA-Filme gezeigt zu bekommen.

Und deshalb ist dieser Band entgegen ersten Vermutungen doch ein Thema für die „Weißenseer Blätter“: Er zeigt nämlich, was sonst, zumal Jüngeren, kaum zu vermitteln ist: daß es nämlich neben Ansätzen zur politischen Demokratie (…) in der DDR eine demokratische Kultur gegeben hat, von der man angesichts des gegenwärtigen barbarischen Kulturverfalls nur noch träumen kann. Wahrscheinlich ist nicht zuletzt die kaum vermittelbare Erfahrung dieser demokratischen Kultur und nicht so sehr Altersnostalgie oder gar -starrsinn ursächlich dafür, daß der Sozialismus als Glut unter der Asche heute noch mehrheitlich von einer Generation bewahrt wird, die diesen einmaligen Höhepunkt noch erlebt hat. Immerhin: Filme sind reproduzierbar …

In: „Weißenseer Blätter“, Nr. 5/1999

Aus dem Vorwort Karl-Eduard von Schnitzlers

Wenn man heute meine Kritiken liest, wird man feststellen, daß von einer Kommando-Diktatur: Lobe dies, verurteile jenes! nicht die Rede sein kann. Schon gar nicht von einer Lobhudelei des sozialistischen Films um jeden Preis. Mir hat niemand befohlen oder „empfohlen“, einen Film positiv oder negativ einzuschätzen. Ich war auf mein eigenes Urteilsvermögen angewiesen und hörte natürlich Meinungen in der Redaktion, in Fachkreisen und im Publikum an.

Kritik muß alles im Auge haben und zu differenzieren wissen. So bin ich an meine Arbeit herangegangen, nicht mit linker Hand, sondern gewissenhaft und gründlich, stets den gesellschaftlichen Hintergrund von Handlung und Personen beachtend, das harmonische oder gestörte Verhältnis von materieller und künstlerischer Produktion im Hinterkopf und mit vielen Kenntnissen aus der Szene hinter der Kamera, vor allem aber mit Verantwortungsbewußtsein gegenüber Kunst, Künstlern und Politik.

Mein Resümee: Die DEFA war gut beraten und geführt und schnitt im Vergleich mit der westdeutschen Filmproduktion hervorragend ab. Wenn sich das heutige Fernsehen auf Drängen seiner Zuschauer überwinden könnte, mehr von den 712 DEFA-Spielfilmen (und vielleicht gar Dokumentarfilme von Thorndike und Gass!) zu zeigen, würde der Zuschauer – angesichts des Mülls, der ihm heute zugemutet wird – die Filmkultur der Deutschen Demokratischen Republik hochachten und sich wenigstens einiger Sternstunden mehr erfreuen.

Hinweis: Wer auf die Filmkritiken K.-E. von Schnitzlers (der bis zu seinem Tod im Jahr 2001 auch zu unseren ersten Autoren gehörte und regelmäßig im „RotFuchs“ publiziert hat) neugierig geworden ist: Gegen eine Spende für den RF-Förderverein können Schnellentschlossene über die Redaktion noch Exemplare des ansonsten längst vergriffenen Buches erhalten.