RotFuchs 220 – Mai 2016

Wie aus einer Gastspielreise nach Rußland
keine Bildungsreise wurde

Der „Dichter“ ist schon unterwegs

Lutz Jahoda

Und nun klimpert, klirrt und tanzt es
Ganz Chortyzja hört die Lieder!
Und der Takt des tollen Hopaks
Wirbelt allen durch die Glieder!

Die Überschrift hätte auch „my failed educational trip“ lauten können. Ich weiß noch, daß ich mir damals mehr Zeit wünschte auf der üppig grünen Insel inmitten des rauschenden Dnjepr. Einen sanft singenden, hellstimmigen Mädchenchor wünschte ich mir, Zeit für die Dämmerung und Zeit für einen langen Abend am Lagerfeuer, wenn feuriger Rotwein die Stimmung anheizt und das Blut der Mädchen in Wallung bringt.

„Du vergißt, weshalb wir hier sind“, sagte Orchesterchef Alfons, „aber wenn Dir nach Folklore zumute ist, wirf Dich an meinen Bauch! Ich will Deine dicke Zigeunerin sein und Dich atemlos machen!“

Da tanzte er schon, schwenkte sein fülliges Becken, begann rhythmisch zu klatschen und zu singen, wie es der Dichter Taras Schewtschenko nicht besser hätte präsentieren können.

Es war im warmen Monat Mai des Jahres 1973. Josif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, war seit zwanzig Jahren tot, aber die UdSSR existierte noch, und wir waren auf einer Orchestertournee kreuz und quer durch Rußland, ich dabei in der Hoffnung, jene Stätten besuchen zu können, wo einst die großen russischen Autoren lebten und ihre unvergänglichen Werke schufen.

Ich war verwöhnt, hatte in Ilmenau immerhin schon in Goethes Hotelbett geschlafen, in Jena vor Schillers Schreibtisch gestanden und den Duft überlagerter Äpfel gerochen, welche dieser zum Schaffensprozeß brauchte und stets in einer der Schubladen zu deponieren pflegte. Auf Capri war ich Maxim Gorkis Spuren gefolgt, hatte in Taormina auf Sizilien vor der Villa gestanden, in der David Herbert Lawrence die Story „Lady Chatterleys Lover“ ersann und wo in den Räumen später Truman Capote wohnte, nachdem er mit „Frühstück bei Tiffany“ einen Hollywood-Hit landen und sich eine Reise nach Europa hatte leisten können.

In Rußland ereilte mich das Pech. Kein Domizil der von mir verehrten Schriftsteller hatte ich sehen können. Lew Tolstois Jasnaja Poljana lag ebensowenig im Bereich unserer Tournee wie Tschingis Aitmatows Heimat Kirgisien.

Rostow am Don hatte mir Hoffnung gemacht. Ich dachte an Scholochows Roman „Der stille Don“. Also gingen wir alle zum Fluß, lagen im warmen Sand und schwammen in Ufernähe. Hier war der Don wirklich still. Ich fragte nach Michail Scholochow und erfuhr, daß er nicht in Rostow wohne, aber in der Nähe: in Staniza Wjoschenskaja, einem Kosakendorf, nur vierhundert Kilometer von Rostow entfernt.

Auch auf der Krim war mir das Glück nicht hold: Anton Tschechows Haus hatte Sperrtag; doch in Odessa wohnte ich immerhin in der Nähe der Herberge, in der Alexander Puschkin abgestiegen war, als er nach Bachtschissarai reiste. Ich fühlte mich ihm noch einmal nah in Sankt Petersburg, das zweihundert Jahre diesen deutschen Namen trug, von 1914 bis 1924 Petrograd und danach bis 1991 Leningrad hieß sowie seither wieder Sankt Petersburg heißt.

Es war aufregend, durch diese Stadt zu gehen, die zweihundertundsechs Jahre lang russische Hauptstadt war. Hier schrieben und starben Alexander Puschkin und Fjodor Dostojewski. Als ich nach einem Dostojewski-Museum fragte, erklärte mir die Reiseleiterin leise, daß Dostojewski erst wieder seit den Tagen von Chruschtschow ein Gesprächsthema sei. Und nachdem ich erfuhr, daß in Puschkins Arbeitszimmer auf dem Damastbezug des Sofas aus Walnußholz noch immer der Blutfleck aus der Schußwunde des Dichters zu besichtigen sei, regte es mich nicht mehr auf, als ich hörte, daß es auch dort Museums-Sperrstunden gab.

So teilten sich zwei Unternehmungen, die ich mir gleichermaßen erfolgreich zusammengebracht erhofft hatte, in zwei Erinnerungsbilder: in eine geglückte Konzerttournee und eine Bildungsreise mit Hindernissen.

Trost fand ich im Antiquariatsbereich einer Buchhandlung auf dem Newski-Prospekt, wo ich preiswert eine englischsprachige Puschkin-Biographie erwerben konnte.

Zwei Seelen wohnten einst in Puschkins Brust, ebenso wie immer noch in meiner. Auch er war wie ich ein Junikind, aus astrologischer Sicht ein „Zwilling“, verliebte sich leicht und ist vielleicht auch deshalb mir ans Herz gewachsen.

„Sorglos bin ich und leicht zu entflammen!“ Puschkins Worte. „Ich kann Schönheit nicht sehen ohne Rührung!“ Auch das ist ein Satz von ihm, der sich bestimmt nicht allein auf die Schönheit des weiblichen Geschlechts bezog.

„Den Künsten sich so nah zu fühlen, belebt den Körper und den Geist“, skandierte ich laut, als ich im Takt des Versmaßes über die Newabrücke schritt und bekümmert feststellen mußte, daß mir zur Fortsetzung meines Einfalls für die nächsten Zeilen kein gescheiter Reim mehr einfiel. So formulierte ich schnell um und dichtete selbstkritisch:

Was mir an Geist und Reimkunst fehlt,
das paßt in keinen Trichter!
Hinter den Weibern her zu sein,
macht längst noch keinen Dichter!

Apropos Dichter: Als ich vom Spaziergang zurückkam, stand mein Hotelzimmerbad unter Wasser. Zwei Dichtungen an Wasserhahn und Abfluß mußten erneuert werden. Die Hotelchefin an der Rezeption sprach deutsch und sagte: „Kein Grund zur Sorge, Genosse Jagoda. Der Dichter ist schon unterwegs.“

Ich denke, daß ich Rußland bei meinen geschichtlichen Betrachtungen auch weiterhin nicht aus den Augen verlieren sollte.