RotFuchs 221 – Juni 2016

Der kleine Fuchs und die Smombies

Edda Winkel

Alle zwanzig Jahre, sagte mein Lehrer, verdoppelt sich das Wissen der Menschheit. Das wird wohl so sein.

Jeder hat die Möglichkeit, aus diesem Fundus zu schöpfen, sich weltweit über Gentechnik, Quantenphysik, Gravitationswellen zu informieren. Wenn ich verstehe, verinnerliche, mich mit anderen austausche, kann daraus ideeller Reichtum werden.

Über das Wachsen von Moral und Benehmen hat mein Lehrer in diesem Zusammenhang nichts erwähnt. Alle wollen mitreden über Moral und Ethik, Toleranz und Humanismus. Doch die Gefahren, die von missionierenden Moralaposteln ausgehen, wenn sie den Menschen ihre Weltsicht im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren schlagen, darf man nicht unterschätzen. Auch in diesen Fragen sind das eigene Denken, sind Austausch und Erfahrung gefragt.

Menschen drängen und schieben in die U-Bahn, zwischen meinen Füßen kauert der kleine Fuchs. Niemand sieht ihn, denn die Leute starren stehend oder sitzend unentwegt auf ihr Smartphone.

Beim Halt springt ein junger Mann im letzten Moment von seinem Platz auf, rempelt eine schwangere Frau an, beschimpft sie, sie steht ihm im Weg. Hätte er ihr nicht seinen Platz anbieten können?

Ein Kind greint in seinem modischen Buggy. Die Mutter sieht unwillig vom Mobiltelefon auf, greift in die Handtasche, zieht ein zweites Handy heraus, schaltet ein und drückt es dem Kind in die Hand, Stille. Ich fühle mich fast so schlecht wie vor zehn Jahren, als ich sehe, wie eine Mutter ihr weinendes Kind mit Füßen stieß. Damals habe ich eingegriffen, heute traue ich mich nicht. Ich kann ihre Reaktion nicht einschätzen.

An der nächsten Station steigt sie aus, eine Hand bedient das Smartphone, mit der anderen schiebt sie eilig die Sportkarre zum Fahrstuhl. Gut daß es den jetzt gibt und daß er auch funktioniert. Mit Hilfe anderer könnte sie kaum rechnen, wenn sie den Wagen über die Treppe bugsieren müßte. Jeder Smombie* würde sie stehen lassen. Der meint das nicht so, er sieht sie nur nicht. Er starrt auf sein hochintelligentes Technikwunder.

Achtung, Smartphone-Junkies!

Achtung, Smartphone-Junkies!

„Ist das Smartphone ein böser Traum, der die Menschen gefangen hält?“, fragt der kleine Fuchs.

„Mir scheint, eine böse Fee hat den Menschen eine Haut übergestreift und ihre Sinne gefangen, um sie aus der realen Welt wegzulocken,“ antworte ich, „sie reden nicht mehr miteinander.“

„Was ist zu tun?“

„Ich weiß es nicht, Warnschilder und Verbote helfen nicht.“

„Ich erfinde eine App, die auf Denkzwerge, Smombies und Tastenhengste einen hackenden Raben ansetzt“, lacht der Fuchs.

„Mit einer solchen App ist das Problem nicht zu lösen, dazu muß ja schon wieder das Smartphone herhalten“, reagiere ich.

Zu Hause fange ich an zu grübeln.

Ist die Skepsis gegenüber solchen Geräten nur eine Frage, welche die Älteren umtreibt? Könnte man die Dinger nicht einfach abschaffen? Die Menschen würden wieder Briefe schreiben, direkt miteinander sprechen, einander zuhören. Andererseits kann man mit einem Smartphone jeden anderen Nutzer auf der Welt erreichen und sich mit ihm in Verbindung setzen. Das kleine Wunder ist Computer, Bildschirm, Wiedergabegerät, Kamera und Mobiltelefon in einem.

Eine schwarz gekleidete Frau mit brennenden Augen hockt plötzlich auf meinem Bett und sagt böse: „Ich bin die Fee, von der du glaubst, daß sie die Menschen in eine Haut gesteckt hat, um ihren Abstand voneinander zu vergrößern. Bist Du wirklich so naiv, mir nicht mehr zuzutrauen? Meine Kraft ist märchenhaft gewachsen. Ich habe heute ganz andere Möglichkeiten. Ich muß mich nicht darauf beschränken, die Bewohner eines Schlosses in einen hundertjährigen Schlaf zu versenken. Wenn ich will, schicke ich eine Smartphonebolie über die Menschen und zwinge sie, mir wie eine Herde Schafe zu folgen, meinen Befehlen zu gehorchen.“

Bestürzt starre ich sie an, und bevor ich reagieren kann, schnipst sie mit den Fingern: „Fuß, Fuß!“ Plötzlich sehe ich, wie meine Finger schrumpfen, sich verdicken, verformen, be-haaren, zu Fuchspfoten werden. Jetzt deutet sie noch mit Gemurmel auf mein Smartphone. Es schnellt vom Nachttisch, ich hinterher und wie ein Fuchs im Maussprung auf das Gerät. Packen kann ich es, aber mit den neuen Vorderfüßen läßt sich nicht einmal der Notruf bedienen.

Entsetzt fahre ich aus dem Schlaf. Meine Hände sind schweißnaß, Menschenhände – keine Pfoten – Erleichterung. Ich richte mich auf, taste nach dem Smartphone und halte mitten in der Bewegung inne.

Auf den technischen Fortschritt möchte ich nicht verzichten. Muß ich mich deshalb völlig auf den Bildschirm fixieren, statt die Kontakte zu echten Freunden zu pflegen?

Liegt es am Smartphone, wenn seine Nutzung zur Isolation des Menschen führt?

Es ist an der Zeit, nachzudenken.

* Wer nur noch auf sein Smartphone starrt und von seiner Umwelt nichts mehr mitbekommt, ist ein „Smombie“. Die Wortschöpfung ist eine Kombination aus Smartphone und Zombie – ein „Jugendwort“ des Jahres 2015.