RotFuchs 212 – September 2015

Als 300 000 junge Franco-Kanadier
eine rechte Regierung zu Fall brachten

Der legendäre Studentenstreik in Québec

RotFuchs-Redaktion

Im Februar 2012 begann in Kanadas französischsprachiger Provinz Québec eine sich bis in den September fortsetzende Kampfaktion von außergewöhnlicher Durchsetzungskraft. Es handelt sich um ein in der kanadischen Presse monatelang für Schlagzeilen sorgendes, aber im Ausland kaum beachtetes Ereignis. Drei Viertel der an Québecs Universitäten, Hoch- und Fachschulen Studierenden traten in einen von wachsenden Teilen der übrigen Bevölkerung unterstützten unbefristeten Streik, um einen Frontalangriff der rechtsgerichteten Provinzregierung abzuwehren.

Um was ging es? Das von der Liberalen Partei bereits seit neun Jahren gestellte Kabinett hatte kurzerhand vollendete Tatsachen schaffen und die bis dahin niedrigsten Studiengebühren ganz Nordamerikas in Stufen um 75 % erhöhen wollen. Das Ziel war eine Angleichung der Sätze an die bei Elite-Universitäten in den USA und im englischsprachigen Teil Kanadas geltenden Modalitäten. Demgegenüber waren die Tarife in Québec ausgesprochen maßvoll und auch für Kinder ärmerer Familien erschwinglich. Mit „nur“ 1500 kanadischen Dollars stellten sie gewissermaßen eine „Anomalie“ dar.

Studentenprotest im Jahre 2012 in Québec
Studentenprotest im Jahre 2012 in Québec

Um diesen Zustand zu beheben und die Herbeiführung „landesüblicher Konditionen“ zu ermöglichen, verkündete das Québecer Provinzkabinett eine Übernahme der in anderen Landesteilen geltenden Verhältnisse. Raymond Bachand, der damals als Finanzminister amtierte, bezeichnete den Angriff auf den Etat geringverdienender Familien und oftmals noch zu Nebenjobs gezwungener Studenten als „kulturelle Revolution“.

Die Protestaktionen gegen diese wurden von einer sich als „Breite Koalition für gewerkschaftliche Solidarität der Studenten“ bezeichnende Organisation getragen. Deren Sprecher war der damals erst 23jährige Gabriel Nadeau-Dubois, der jetzt ein spannendes und bereits preisgekröntes Buch „Den Kopf behalten!“ über die Kämpfe im Frühjahr und Sommer 2012 vorgelegt hat. Er gewährte der belgischen Monatszeitschrift „Solidaire“ ein Interview, auf dessen Kernaussagen wir zurückgreifen.

„Meine Eltern haben sich als Aktivisten der Studentenbewegung während eines Streiks in Québec kennengelernt. So war es völlig normal, daß ich mich ebenfalls engagierte“, berichtete Gabriel.

Bei der Aktion von 2012 sei es um ganz konkrete Dinge gegangen, wobei man das langfristige Ziel – ein völlig gebührenfreies Studium für alle – nicht aus den Augen verloren habe. Die rechtsgerichtete Provinz-regierung Québecs habe mit einem so lange anhaltenden Widerstand der Studenten nicht gerechnet. Doch nach etwa zwei Monaten sei sie zu der Erkenntnis gezwungen worden, daß es sich inzwischen um weit mehr als eine Blockierung von Hochschultoren und Hörsälen gehandelt habe. Linke politische Parteien und die Unions hätten die Reihen der streikenden Studenten verstärkt.

Die Bewegung sei aus sehr kleinen Anfängen stürmisch gewachsen, sagte Gabriel. Als die Frage eines studentischen Ausstandes erstmals in einer Vollversammlung aufgeworfen worden sei, hätten nur zwölf der 1800 Anwesenden dafür gestimmt. Doch bereits in den folgenden Beratungen habe sich ein gegenteiliger Schneeball-Effekt gezeigt. Jetzt sei das Kräfteverhältnis genau umgekehrt gewesen: Drei Viertel aller Studenten Québecs weigerten sich, in ihre Seminarräume zurückzukehren. Sie seien in ganz kurzer Zeit enorm politisiert worden.

„Wir machen jeden Tag Politik“, stellte Gabriel Nadeau-Dubois fest. „In normalen Zeiten wird sie hierzulande allerdings nur einmal in vier Jahren veranstaltet. Man wählt, und die Sache hat sich erledigt. Das zumindest ist es, was die Führer wollen. Doch Politik ist viel mehr als eine bloße Stimmabgabe.“

Die Jugend Québecs habe einen Erziehungsprozeß durchlaufen, der zu einer Radikalisierung geführt habe. Dagegen hätten die Widersacher des Studentenstreiks Tricks aller Art angewendet. So seien von den sehr minoritären Befürwortern der drastischen Gebührenerhöhung plötzlich eigene „Streikposten“ aufgestellt worden, um die Aktion zu unterlaufen. Sie hätten Zugänge zur Universität blockiert und erklärt: „Wir lehnen den Streik ab, fügen uns aber den Beschlüssen der Mehrheit.“

Doch solche Täuschungsmanöver hätten nicht verfangen. Am Ende sei die Regierung zum Rücktritt gezwungen worden, und die geplante Gebührenerhöhung habe nicht stattgefunden. Übrigens ist den Aktionen von 2012 in diesem Jahr ein weiterer „heißer Frühling“ gefolgt. Am 12. März 2015 kündigten 30 000 Studenten Québecs einen zweiwöchigen Sozialstreik an, der mit einer machtvollen Straßendemonstration gegen die Austeritätspolitik einer weiteren rechtsliberalen Provinzregierung seinen Anfang genommen habe.

Studentenproteste im Jahre 2015 in Québec
Studentenproteste im Jahre 2015 in Québec

Die inzwischen auch gewerkschaftlich fest verankerte Bewegung der künftigen Akademiker hat unterdessen ein neues Kampfziel ins Auge gefaßt: den Widerstand gegen den multinationalen Konzern TransCanada, der eine 4600 km lange Ölleitung – den Oleoduc – mit ernsten Risiken für die Umwelt und das soziale Leben im Lande zu errichten beabsichtigt.

RF, gestützt auf „Solidaire“, Brüssel