RotFuchs 225 – Oktober 2016

Die brasilianische Tragödie

Atilio Borón

Eine Bande von Kriminellen, eines „Kriminellen mit Vertrag, mit Krawatte und Kapital“ – wie es im bissigen und warnenden Gedicht von Chico Buarque heißt – hat soeben aus ihrem Bau im Legislativen Palast Brasiliens heraus einen (fälschlicherweise „weich“ genannten) Staatsstreich gegen die legitime und verfassungsmäßige Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, verübt. Wir sprechen von „fälschlicherweise weich genannt“, weil es, wie es die Erfahrung mit dieser Art von Verbrechen in Ländern wie Paraguay und Honduras lehrt, nach solchen Umstürzen unausweichlich zu einer hemmungslosen Unterdrückung kommt, um jeglichen Versuch eines demokratischen Wiederaufbaus zu vereiteln.

Der Dreizack der Reaktion – Richter, Parlamentarier und Massenmedien, alle bis aufs Mark korrupt – setzte einen pseudo-legalen und eindeutig unrechtmäßigen Prozeß in Gang, mittels dessen die Demokratie in Brasilien durch eine unverfrorene Plutokratie ersetzt wurde. Deren Ziel ist es, den 2002 mit der Wahl von Luiz Inacio da Silva („Lula“) zum Präsidenten eingeleiteten Kurs umzukehren. Selbstverständlich zählte diese Verschwörung auf die Unterstützung und den Segen Washingtons, das schon seit Jahren die Emails von Dilma und anderen Staatsfunktionären ausspionierte.

Es erübrigt sich daran zu erinnern, daß die Demokratie den Kapitalismus herzlich wenig kümmert: Einer seiner Haupttheoretiker, Friedrich von Hayek, meinte, daß sie einfach eine Zweckmäßigkeit wäre, die in dem Maße zulässig sei, wie sie sich nicht in den „freien Markt“ einmische, der die nicht-verhandelbare Ordnung des Systems darstellt. Aus diesem Grunde ist es blauäugig, eine „loyale Opposition“ seitens des Kapitals und seiner politischen Sprachrohre zu erwarten, selbst gegenüber einer so gemäßigten Regierung wie der von Dilma. Aus der brasilianischen Tragödie können viele Lehren gezogen werden. Ich nenne nur einige wenige:

Erstens, jegliches Nachgeben gegenüber der Rechten seitens linker oder fortschrittlicher Regierungen dient lediglich der Beschleunigung ihres Ruins. Diesen Fehler hat die PT seit der Regierung Lula immer wieder gemacht, wodurch das Finanzkapital, maßgebliche Industriezweige, die Agrarindustrie und die reaktionärsten Massenmedien Profit schlagen konnten.

Zweitens sollte nicht vergessen werden, daß ein politischer Prozeß nicht allein über die institutionellen Kanäle des Staates verläuft, sondern auch auf „der Straße“, in der Welt der Arbeitenden, der Besitzlosen und Entrechteten. Schon in den ersten Jahren der PT-Regierung hat die Partei ihre Mitglieder und Sympathisanten demobilisiert und sie bloß als wehrlose Wählerbasis betrachtet. Als die Rechte sich daran machte, die Macht zu erringen, und Dilma sich auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Planalto in der Erwartung zeigte, eine Menschenmenge zu ihrer Unterstützung anzutreffen, sah man kaum eine Handvoll verzagter Mitstreiter, unfähig, der wuchtigen „institutionellen“ Offensive der Rechten Widerstand zu leisten.

Drittens dürfen die fortschrittlichen und Linkskräfte nicht noch einmal in den Fehler verfallen, alle ihre Karten einzig und allein auf das parlamentarische Spiel zu setzen. Man sollte bedenken, daß bürgerliche Demokratie für die Rechte lediglich eine taktische Option ist, derer man sich leicht entledigen kann. Deshalb müssen progressive Kräfte, die sich dem Ziel der sozialen Umwälzung verschreiben, immer einen „Plan B“ haben, um den Machenschaften der Bourgeoisie entgegenzutreten, die nach Lust und Laune mit den Institutionen und Regeln des kapitalistischen Staates hantieren. Das setzt Organisation, Mobilisierung und politische Bildungsarbeit innerhalb der Massen voraus – etwas, was die PT nicht getan hat.

Schlußfolgerung: Wenn von einer Krise der Demokratie gesprochen wird, die jetzt angesichts der Ereignisse ganz offensichtlich ist, muß auf die Ursachen der Krise hingewiesen werden. Der Linken ist immer mit gefälschten Argumenten vorgeworfen worden, nicht an die Demokratie zu glauben. Die Geschichte beweist dagegen, daß es die Rechte war, die in der ganzen Welt eine Reihe kaltblütiger Morde an der Demokratie begangen hat; die sich immer mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen gegen jedwedes Projekt gestemmt hat, das darauf gerichtet war, eine fortschrittliche Gesellschaft zu errichten, und die nie davor zurückschrecken wird, ein demokratisches Regierungssystem zu zerstören, wenn es sich für sie als notwendig erweist. Für jene, die in dieser Hinsicht Zweifel hegen, sei erinnert an: Honduras, Paraguay, Brasilien und in Europa an Griechenland. Wer beseitigte die Demokratie in diesen Ländern? Wer will ihr in Venezuela, Bolivien und Ecuador den Garaus machen? Wer massakrierte sie 1953 im Iran, 1954 in Guatemala, 1961 in Belgisch-Kongo, 1965 in Indonesien, 1973 in Chile?

Aus dem Spanischen von Gerhard Mertschenk, redaktionell bearbeitet