RotFuchs 213 – Oktober 2015

Wenn ich mit dem Stahlkocher aus dem Ruhrpott
anstoßen werde …

Die deutsche Einheit ist eine Klassenfrage

Ulrich Guhl

Es ist wieder soweit. Die Fanfaren werden geblasen, um den Sieg über die DDR zu feiern. 25 Jahre ist es dann her, daß die nicht mehr mit der gleichnamigen DDR-Institution identische letzte Volkskammer über die Köpfe der Menschen im Osten hinweg den endgültigen Kotau vor dem übermächtigen Schatten aus Oggersheim vollzog. Der derzeitige Hausherr im Schloß Bellevue wird wieder einmal das Wort Freiheit bis zum Erbrechen strapazieren, das wohl noch niemand so wie er entstellt hat, während die BRD-„Qualitätsmedien“ die am 3. Oktober 1990 als Staat untergegangene DDR in düstersten Farben schildern. So düster, daß demgegenüber selbst die Höllenbilder eines Hieronymus Bosch geradezu fröhlich wirken. Das Kontrastprogramm dazu – die Selbstbeweihräucherung ohne Ende – aber dürfte den auf Differenzierteres hoffenden Beobachter einmal mehr befremden. Das Eigenlob und die Leichenschändung gehören in diesem Milieu zusammen. Nicht wenige Menschen im Westen und die Mehrheit im Osten wenden sich schon seit Jahren angewidert oder zumindest desinteressiert von den jeweils als Neuheiten ausgegebenen Antiquitäten der staatlichen Erinnerungsindustrie ab. Tatsache ist, daß Ost- und Westdeutsche seit einem Vierteljahrhundert unter dem Dach derselben staatlichen Strukturen leben, ohne dabei zu echter Gemeinsamkeit gefunden zu haben. Ins Auge springt zugleich, daß von westlicher Seite kein seriöser Versuch unternommen worden ist, die Frage nach dem Warum des Geschehens zu stellen. Dann hätten Medien und bürgerliche Politiker nämlich dazu Stellung nehmen müssen, wer tatsächlich für die Spaltung Deutschlands verantwortlich zu machen ist. Auch wäre es interessant zu erfahren, warum nach deren Überwindung alles nur Erdenkliche getan wurde, um einen echten Neuanfang zu verhindern.

Der Sieger schreibt die Geschichte, heißt es. Die Tatsache, daß seit 1990 nur der Westen die offizielle Interpretation der historischen Ereignisse vorgibt, während die andere Seite zum bloßen Zuhörer degradiert worden ist, widerspiegelt den Wahrheitsgehalt dieser These. Wer von den Lebenserfahrungen und Einsichten des überwiegenden Teils der Ostdeutschen keine Kenntnis nehmen will oder sie gar als Ausdruck mangelnder Einsicht diffamiert, ist sich seiner Sache nicht sicher.

Daimler-Boß Dieter Zetsche ist mit der BRD zufrieden. Sein „Jahresgehalt“ beträgt 15 Millionen Euro.

Die vielgepriesene „Einheit“ wurde von den meisten Ostdeutschen im Laufe der Zeit immer stärker als feindliche Übernahme empfunden. Und das war sie ja auch! Die enormen Verwerfungen, welche die von der Treuhand vollzogene durchgängige Deindustrialisierung eines bis dahin zur Spitzengruppe der europäischen Industrienationen zählenden Landes hinterließ, dürften als ein zu Friedenszeiten einmaliger Vorgang gelten. Die Arroganz, mit der kulturelle Werte – von Denkmälern und kostbaren Bauwerken bis zu Millionen und aber Millionen Büchern – vernichtet wurden, ließ die Sieger als Eroberer erscheinen, die an einer Wertschätzung der ostdeutschen Identität in keiner Weise interessiert waren. Ganz im Gegenteil. Ihnen ging es allein um Rache dafür, daß die DDR dem westdeutschen Kapital 40 Jahre lang nicht als Tummelplatz zur Verfügung gestanden hat.

Die dem Osten aufdringlich übergestülpte bundesdeutsche Wirklichkeit hinterließ bei vielen Betroffenen das Gefühl des Raubs ihrer gedanklichen Heimat. Existenzangst und Demütigung wurden zum Alltagsgefühl. Diese Lähmung der Menschen war gewollt. Denn wer in ihr verharrt, vermag sich nicht zu wehren.

An diesem 3. Oktober wird man die Erinnerung an die berüchtigte Treuhand nicht in den Vordergrund rücken. Vermutlich dürfte auch ebensowenig von Kohls „blühenden Landschaften“ in renaturierten Tagebau-Seen die Rede sein. Gewisse „Bürgerrechtler“ werden als „alleinige Stimme der Ostdeutschen“ präsentiert, obwohl sich diese Herolde der „Wende“ weder einst noch nach dem Anschluß für die Rechte der Ostdeutschen in die Bresche geworfen haben.

Doch machen wir es uns nicht zu einfach. Natürlich gab es die Verbrechen der Treuhand, an denen auch der heutige Griechenerpresser im Finanzministerium der BRD damals nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte. Es gab die Invasion sogenannter Alteigentümer und ein gerüttelt Maß westdeutscher Arroganz. Aber es fehlte auch nicht an jenen DDR-Bürgern, welche ihr Land allzu bereitwillig aufgaben und nicht weniger als „Wessis“ in „Helmut, Helmut“ den Messias erblickten. Etliche Ostdeutsche leiden offenbar an Gedächtnisschwund, wenn sie sich allein in der Rolle Irregeführter sehen und ihre eigenen Fehlwege dabei ausblenden.

Der Redlichkeit halber sei hinzugefügt: Ich selbst glaubte 1990 noch an „Gorbi“ und erlag der Illusion, daß man das „Gute aus Ost und West“ irgendwie vereinen könnte.

Wenn wir aber unser Versagen und daraus resultierende eigene Fehleinschätzungen vergessen, leben auch wir mit einer Lüge.

Und die Westdeutschen? Für mich gibt es sie nicht! Wenn wir „Ossis“ den Stahlkocher aus dem Ruhrpott mit den Treuhandbossen in ein und denselben Topf werfen, vergessen wir, daß diese beiden absolut nichts miteinander zu tun haben. Die Wahrheit besteht darin, daß wir erst dann zu einer wirklichen Gemeinsamkeit finden, wenn wir begreifen, daß das Kapital Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen ausbeutet und gegen ihre eigenen Interessen manipuliert. Es ist daran interessiert, daß die Menschen einen Unterschied darin auszumachen meinen, ob jemand am Rhein oder an der Neiße geboren wurde. Sie sollen nicht erkennen, daß es Klassenklüfte sind, welche die Menschen in ganz Deutschland voneinander trennen.

Irgendwann werden die Deutschen aus der DDR und der alten BRD einen schmerzhaften Blick auf ihre Geschichte werfen. Der Tag wird kommen, an dem alle die volle Wahrheit über diese „Einheit“ erfahren. Die nationale Frage hat stets einen sozialen, einen Klasseninhalt.

Erst wenn die Geschichtsbücher neu geschrieben werden, erhalten Ost- wie Westdeutsche die Chance, im echten und tieferen Sinne wirklich zueinander zu finden. Der Blick in diese Bücher wird für sie alle nicht einfach sein. Zu simpel war für die einen die Rolle des alles besser wissenden Siegers und für die anderen die des bloß mißverstandenen Unterlegenen.

Es wird nicht leicht sein, neue Verbitterung zu vermeiden. Sie wird sich nur dann abwenden lassen, wenn jene, welche an der Spaltung arbeitender Menschen interessiert sind, um sie leichter manipulieren und ausnehmen zu können, von diesen als gemeinsamer Feind erkannt werden. Auf eine solche deutsche Einheit freue ich mich. Dann werde ich mit dem Stahlkocher aus dem Ruhrpott auf sie anstoßen!