RotFuchs 187 – August 2013

Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben

Die Friedenstat des 13. August 1961

Prof. Dr. Horst Schneider

Berlin ist seit der „Wiedervereinigung“ durch den „Mauerfall“ und den Bundestagsbeschluß vom 20. Juni 1991 wieder Hauptstadt Deutschlands, allerdings nicht mehr des Deutschen Reiches, sondern des Staates, der dessen Rechtsnachfolge für sich beansprucht. Damit ist aber nicht die Geschichte Westberlins zwischen 1945 und 1990 mit ihren Folgen einfach ausgelöscht. Erinnerungen, Mythen und „Rechtsansprüche“ leben weiter: Westberlin – im Urteil seines Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter der „Pfahl im Fleische der Sowjetzone“ –, aber auch die „Rosinenbomber“, die „Freiheitsglocke“, die „Mauer“, der „Mauerbau“ und die „Mauerschützen“. Im offiziellen Sprachgebrauch werden Begriffe verwendet, die ohne ihre geschichtliche Wurzel unverständlich sind. Dazu gehören auch „innerdeutsche Grenze“ oder „Viermächteverantwortung“. Klaus Emmerich kommt das Verdienst zu, daß er einen Aspekt der jüngsten Geschichte Westberlins genauer analysiert: den rechtlichen Charakter der Grenze um Westberlin und die Rechtsstandpunkte dazu in Ost und West, die sich frontal gegenüberstanden. Das Fazit des Juristen: Die Grenze um Westberlin war eine innere Grenze der DDR, an der grundsätzlich ihr Recht galt und wirksam war.

Emmerich untersucht zunächst die Ursache für den Sonderstatus Westberlins. Dieser wurde bereits auf einer Konferenz der Alliierten am 12. September 1944 in London festgelegt. Darstellungen, wonach später Teile der sowjetisch besetzten Gebiete (Thüringen, Leipzig) zum „Tausch“ angeboten worden seien, gehören ins Reich der Fabel.

In London erfolgte auch die Aufteilung des Berliner Territoriums in Besatzungssektoren auf der Grundlage der Verwaltungsstruktur Groß-Berlins, wie sie 1920 festgelegt worden war. Da die Sowjetarmee Berlin befreit hatte, rückten die verbündeten Truppen der USA, Großbritanniens und Frankreichs nach entsprechender Vorbereitung im Juli 1945 in ihre Bezirke ein. Zunächst gab es den Versuch, durch einen Alliierten Kontrollrat aller vier Mächte die Richtung der Politik in Deutschland gemeinsam zu bestimmen. Der Versuch mißlang aufgrund der Unvereinbarkeit der Interessen. Was folgte waren der Kalte Krieg und die NATO-Politik des Rollback. Als die Westmächte in ihren Zonen eine separate Währung einführten und Westberlin dabei einbezogen, antwortete die UdSSR mit dessen Blockade. Die USA reagierten „im Namen der Freiheit“ mit ihren „Rosinenbombern“. Nach dem Auseinanderbrechen des Gesamtberliner Senats entstanden politische Tatsachen, welche für die Rechtslage zwischen der DDR und Westberlin von großer Bedeutung waren.

Emmerich weist nach: 1. Westberlin war Bestandteil des Hoheitsgebietes der DDR. 2. Die DDR besaß mit ihrem Hauptverbündeten UdSSR die Lufthoheit über Westberlin, was die Genehmigung dreier Luftkorridore von dort zu BRD-Flughäfen einschloß. 3. Westberliner waren nicht Bürger der BRD, Gesetze des Bundes galten also nicht für sie. 4. Es ergab sich die Anomalie, daß Westberlin eine Großstadt ohne Umland war. 5. Lebenswichtige Einrichtungen, wie Bahn und Wasserstraßen, unterstanden der Verantwortung der DDR.

Deren Regierung und der Senat von Westberlin mußten bei ihren politischen Entscheidungen von diesen Tatsachen ausgehen, auch im August 1961.

Der „Mauerbau“ wurde nicht durch die DDR initiiert, aber die Konsequenzen für den Frieden wurden in Ost und West begrüßt. Franz-Josef Strauß, damals Bonner Verteidigungsminister, urteilte rückblickend: „Mit dem Mauerbau war die Krise, wenn auch für die Deutschen in unerfreulicher Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich abgeschlossen.“

Heinz Keßler, letzter DDR-Verteidigungsminister – Pfarrer Eppelmann kann hier wohl kaum mitgezählt werden – titelte das mit Fritz Streletz verfaßte Buch „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben“. Damals galt Westberlin als „billigste Atombombe“.

Welche Folgen ein militärischer Konflikt auf deutschem Boden gehabt hätte, wußten schließlich auch Brandt und Bahr, als sie von der Konfrontation zur Entspannung übergingen.

Wer kann heute noch Krokodilstränen über den Bau der Mauer vergießen, wenn man weiß, wovor sie die Deutschen und die Welt bewahrt hat? Aber der Frieden wurde dennoch immer aufs neue von Westberlin aus gefährdet, was auch den westlichen Alliierten der einstigen Antihitlerkoalition so nicht paßte.

Nach jahrlangen Verhandlungen, an denen die beiden deutschen Staaten nicht offiziell teilnahmen, wurde am 3. September 1971 von den Vertretern der einstigen Siegermächte das „Vierseitige Abkommen“ unterzeichnet. Diese erklärten dazu: „Die vier Regierungen werden ihre individuellen und gemeinsamen Rechte und Verantwortlichkeiten, die unverändert bleiben, gegenseitig achten.“

Durch dieses Abkommen wurde der Rechtsstatus Westberlins keineswegs endgültig und exakt geregelt. Das zeigen schon die schwammigen Formulierungen, die unterschiedliche Interpretationen in der Politik zuließen. Zwei vieldeutig ins Deutsche übersetzbare Begriffe fielen besonders ins Gewicht: Bestandteil und Verbindungen. Der „Kernsatz“ lautete, Westberlin sei „wie bisher“ kein Bestandteil der Bundesrepublik und dürfe auch weiterhin nicht von ihr regiert werden.

Im Originaltext heißt Bestandteil auf Russisch sostawnaja tschastj, im Englischen constituent part, auf Französisch element constitutif. Wichtig ist auch, wie swjasi, ties und liens ins Deutsche übersetzt werden, ob als Verbindungen (im Sinne von Verkehrswegen) oder Bindungen (im Sinne von politischen Abhängigkeiten).

Konflikte und Kraftproben waren vorprogrammiert. Entscheidend aber war die Versicherung des Abkommens, daß „ungeachtet der Unterschiede in den Rechtsauffassungen die Lage, die sich in diesem Gebiet entwickelt hat, nicht verändert wird“.

Aufschlußreich wäre die Prüfung der Frage, ob sich „die Lage in diesem Gebiet“ am 9. November 1989 mit dem Wegfall der „Mauer“ veränderte und welche Folgerungen für die „vier Mächte“ daraus erwuchsen. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht der DDR wie der UdSSR waren damals eklatant.

Die Beschränkung des Autors auf den rechtlichen Charakter der Grenze um Westberlin hat für den Leser einige Nachteile. Die Entwicklung in und um Westberlin besaß komplexen Charakter. Sie schloß politische, militärische, völkerrechtliche und ideologische Faktoren ein.

Wo sehe ich Ergänzungsbedarf? Klaus Emmerichs Polemik gegen die friedensgefährdenden Aktivitäten diverser „Dienste“ von Westberlin aus müßte verstärkt werden. Deren Abwehr hat die DDR enorm viel Kraft gekostet. Die Auseinandersetzung mit jenen, welche den „Mauerbau“ und dessen Konsequenzen abstrakt, also unhistorisch verteufeln, hätte den Lesern helfen können, sich gegen künftige ideologische Attacken der offiziellen BRD-Geschichtsschreibung zu immunisieren. Der historische Platz der DDR und der UdSSR bei der Friedenssicherung in Europa über vier Jahrzehnte hinweg müßte in der „Erinnerungsschlacht“ eine überragende Rolle spielen.

Klaus Emmerich:

Die Grenze um Westberlin 1945–1990
Eine staatsrechtliche Studie

Books on Demand, 108 Seiten
ISBN 978-37322-0770-1