RotFuchs 225 – Oktober 2016

WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG – Folge 4

Die Prinzipien des
proletarischen Internationalismus

RotFuchs-Redaktion

Seit Mitte der 60er-Jahre hat der damalige „Deutschlandsender“ (später umbenannt in „Stimme der DDR“) eine auch in Westdeutschland gehörte und beachtete Sendereihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung ausgestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen – inhaltlich wurde nichts verändert, von unumgänglichen Kürzungen abgesehen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs (dazu auch immer die Angabe des seinerzeitigen Sendetermins) und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommende Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschlagen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden. Wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir (gelegentlich deswegen als Ewiggestrige beschimpft) fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.

Sendetermin: 8. November 1972

Hände weg von Sowjetrußland! Kundgebung in Berlin, 1919

Hände weg von Sowjetrußland! Kundgebung in Berlin, 1919

Über den Abend des 30. November 1922 notierte die Bibliothekarin Lenins in das Tagebuch seiner diensthabenden Sekretäre: „Wladimir Iljtsch kam um 6.45 Uhr in sein Arbeitszimmer, fragte, was es Neues gebe und wann die Sitzung des Politbüros zu Ende gewesen sei … Er bat um das Protokoll vom Politbüro, das ich ihm gab.“[1] Lenins Gesundheitszustand hatte sich erneut verschlechtert; er konnte nicht mehr an allen Beratungen teilnehmen.

Das Politbüro des ZK der KPR(B) hatte am selben Tage einen Be­richt über die „Union der Republiken“ entgegengenommen und die Grundthesen der Verfassung der zu bildenden UdSSR beschlossen. Deshalb interessierte Lenin das Protokoll so außerordentlich. Ihn bewegte vor allen Dingen, ob bei der Vereinigung der Sowjet­republiken die Prinzipien des proletarischen Internationalismus auch konsequent genug berücksichtigt würden. Darüber hatte es Auseinandersetzungen gegeben, und Lenin war voll Sorge, ob diese schwierige Frage – von entscheidender Bedeutung für die weitere Festigung der Sowjetmacht, für die internationale Arbeiterklasse und für die ganze fortschrittliche Menschheit – richtig gelöst würde. Das Protokoll bestätigte, daß jetzt Einmütigkeit über den zu beschreitenden Weg herrschte. Die Leninschen Ideen wurden verwirklicht.

Einen Monat später, am 30. Dezember 1922, versammelten sich in Moskau über 2200 Delegierte der Russischen Sozialistischen Föde­rativen Sowjetrepublik, der Ukrainischen SSR, der Belorussischen SSR und der Transkaukasischen SFSR zum I. Sowjetkongreß der UdSSR. Sie beschlossen die Vereinigung der vier selbständigen Sowjet­republiken zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, wähl­ten das Zentralexekutivkomitee der UdSSR und beauftragten es, den Entwurf einer Verfassung auszuarbeiten. Vier Sowjetrepubliken schlossen sich zu einem einheitlichen, multinationalen sozialistischen Unionsstaat zusammen, einem Staat, dem heute (1972) über 100 Nationen und Völkerschaften angehören.

Dieser erste multinationale sozialistische Staat der Weltgeschich­te beruhte auf den Ideen der Gleichberechtigung und brüderlichen Zusammenarbeit der Völker, auf den Ideen des proletarischen Internationalismus. Der proletarische Internationalismus war das bestimmende Prinzip W. I. Lenins und der Kommunistischen Partei bei der Bildung der UdSSR.

Die Gründung der Sowjetunion bedeutete eine Weiterentwicklung des proletarischen Internationalismus. Zum ersten Male in der Geschichte wurde er zur festen Grundlage des engen Zusammen­schlusses, der freiwilligen Vereinigung gleichberechtigter und unabhängiger Staaten. Karl Marx hatte 75 Jahre vorher, im No­vember 1847, auf einem internationalen Meeting in London er­klärt: „Damit die Völker sich wirklich vereinigen können, muß ihr Interesse ein gemeinschaftliches sein. Damit ihr Interesse gemeinschaftlich sein könne, müssen die jetzigen Eigentumsver­hältnisse abgeschafft sein, denn die jetzigen Eigentumsverhält­nisse bedingen die Exploitation (Ausbeutung) der Völker unter sich: die jetzigen Eigentumsverhältnisse abzuschaffen, das ist nur das Interesse der arbeitenden Klasse. Sie allein hat auch die Mit­tel dazu.“[2]

Gamal Abdel Nasser und Fidel Castro 1960 in New York

Gamal Abdel Nasser und Fidel Castro 1960 in New York

Voraussetzung für die wirkliche Vereinigung der Völker, der einzelnen Staaten entsprechend den Prinzipien des proletarischen Internationalismus war also der Sieg der sozia­listischen Revolution in jedem dieser Staaten, die Errichtung der Macht der Arbeiterklasse. Diesen Weg hatten die Arbeiter und Bauern des alten russischen Reiches unter Führung Lenins und der Partei der Bolschewiki beschritten.

Für die Arbeiter aller Länder ist eines wichtig, so hatten Karl Marx und Friedrich Engels den proletarischen Internationalismus begründet, daß sie trotz nationaler Unterschiede dem Wesen nach den gleichen geschichtlichen Weg beschreiten müssen: Errichtung der Macht der Arbeiterklasse, Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Aufbau des Sozialismus. Das liegt in der Natur der Arbeiterklasse, ergibt sich aus ihrer Stellung im Produktionsprozeß, in der Gesellschaft. Das gemeinsame Ziel der Arbeiterklasse verlangt den gemeinsamen Kampf, die gegen­seitige Unterstützung, den proletarischen Internationalismus. Diesen zentralen Gedanken bringen die Schlußsätze des „Kommu­nistischen Manifests“ zum Ausdruck: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Das meinen auch die Statuten der 1864 gegründeten I. Internationale, wenn in ihnen festgestellt wird: „Die Emanzipation der Arbeiterklasse (ist) weder eine lokale noch eine nationale, sondern eine soziale Aufgabe, welche alle Länder umfaßt.“[3]

W. I. Lenin erklärte die Notwendigkeit des proletarischen Internationalismus so: „Die Herrschaft des Kapitals ist interna­tional. Das ist der Grund, weshalb auch der Kampf der Arbeiter aller Länder für ihre Befreiung nur dann Erfolg haben kann, wenn die Arbeiter gemeinsam gegen das internationale Kapital vorgehen … Die Vereinigung der Arbeiterklasse, ihr Zusammen­schluß, beschränkt sich nicht auf die Grenzen eines Landes oder auf eine Nationalität: Die Arbeiterparteien verschiedener Staaten verkünden laut und vernehmlich die völlige Übereinstim­mung (Solidarität) der Interessen und Ziele der Arbeiter der ganzen Welt … und schließen die Arbeiterklasse aller Nationalitäten und aller Länder zu einer einzigen großen Arbeiterarmee zusammen. Diese Vereinigung der Arbeiter aller Länder ist eine Notwendigkeit, dadurch hervorgerufen, daß die über die Arbeiter herrschende Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nicht auf ein einzelnes Land beschränkt.“[4]

Das heißt, der proletarische Internationalismus ist ein grund­legendes und wichtiges Prinzip in der Politik und Ideologie der revolutionären Arbeiterbewegung, untrennbarer Bestandteil der wissenschaftliche Weltanschauung des Proletariats. Er ist das höchste Prinzip in den Beziehungen zwischen den kommunistischen und Arbeiterparteien. Proletarischer Internationalismus verlangt, bei der Beurteilung aller Ereignisse im Klassenkampf, bei der Entscheidung jeder politischen Frage vom Standpunkt der inter­nationalen Arbeiterklasse auszugehen.

X. Weltfestspiele in Berlin/DDR, 1973

X. Weltfestspiele in Berlin/DDR, 1973

Proletarischer Internationalismus bedeutet die Unterstützung der Arbeiterklasse der anderen Länder im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, bedeutet gegenseitige Hilfe bei der Lösung der jeweiligen Aufgabe im eigenen Land, bedeutet Zusammen­arbeit, Einheit und Geschlossenheit der Arbeiter aller Länder zur Erfüllung der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse.

Proletarischer Internationalismus ist die wissenschaftlich begründete Ideologie der gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse. Er bringt das Solidaritätsgefühl der Arbeiterklasse, ihre Freundschaft und Brüderlichkeit zum Ausdruck und charakterisiert die Beziehungen der Arbeiter verschiedener Länder zueinander. Der proletarische Internationalismus ist ein objektives Erfordernis für den Klassenkampf der Arbeiter. Er ergibt sich aus dem gesetzmäßig verlaufenden geschichtlichen Prozeß und aus der historischen Rolle der Arbeiterklasse. Er ist sowohl seiner Entstehung als auch seiner Wirkung und Entwicklung nach objektiv begründet.

Auf diesen Prinzipien beruht der 1922 gegründete sozialistische Staat der Sowjetrepubliken. Der proletarische Internationalismus wurde damit zum charakteristischen Merkmal für das Verhältnis sozialistischer Staaten zueinander. Er bestimmte den Inhalt eines ganz neuen Typs staatlicher Beziehungen und wurde zur Grundlage für die brüderlichen Beziehungen der im Staatenbund zusammen­geschlossenen sozialistischen Nationen, der Länder, in denen die Arbeiterklasse zusammen mit ihren Verbündeten die politische Macht errichtet hat. Die Grundprinzipien der Beziehungen von Angehörigen der Arbeiterklasse verschiedener Länder zueinander wurden zur Grundlage der Zusammenarbeit und des Zusammenschlusses sozialistischer Staaten in einer Gemeinschaft. Aus dem proletarischen Internationalismus entwickelte sich der sozialistische Internationalismus.

Die Gründung der UdSSR verkörperte die höchste Form des proletarischen Internationalismus. Das wurde in der internationalen Arbeiterbewegung auch so verstanden. Die Rote Armee konnte Konterrevolution und Intervention nicht zuletzt deshalb schlagen, weil Arbeiter in der ganzen Welt mit dem Sowjetstaat Solidarität übten. Zur Verteidigung Sowjetrußlands organisierten die Arbeiter in vielen kapitalistischen Ländern Streiks, behinderten den Transport von Waffen für die Konterrevolution und bildeten Aktionskomitees unter Losung „Hände weg von Sowjetrußland!“ Diese Bewegung erfaßte die Arbeiterklasse in allen großen kapitalistischen Staaten Europas und in den USA.

Internationale Bataillone und Regimenter halfen der Roten Armee, die sozialistische Revolution zu verteidigen. In diesen Einheiten kämpften rund 80 000 Ungarn, Tausende Polen, etwa 6000 Deutsche, ferner Jugoslawen, Tschechen, Koreaner und Vertreter anderer Völker. W. I. Lenin würdigte die gewaltige internationale Solidaritätsbewegung, diesen hervorragenden Ausdruck des proletarischen Internationalismus, indem er schrieb: „Die Hauptursache unseres Sieges lag darin, daß die Arbeiter der fortgeschrittenen westeuropäischen Länder so viel Verständnis und Sympathie für die internationale Arbeiterklasse empfanden, daß sie trotz der Lügen der bürgerlichen Presse, die die Bolschewiki in den Millionenauflagen ihrer Druckerzeugnisse mit den widerlichsten Verleumdungen überschüttete, dennoch auf unserer Seite standen. Und dieser Umstand hat den Krieg, den wir führten, entschieden. Es war allen klar: Wenn Hunderttausende von Soldaten gegen uns so gekämpft hätten, wie sie gegen Deutschland gekämpft haben, so hätten wir uns nicht behaupten können.“[5]

Die Gründung der UdSSR krönte den Sieg über Intervention und Konterrevolution, den Sieg der Arbeiter und Bauern Rußlands, den Sieg der ganzen internationalen Arbeiterklasse. Am 31. Dezember 1922, einen Tag nach der Bildung der UdSSR, diktierte Lenin einen Brief für den XII. Parteitag der KPR(B) „Zur Frage der Nationalistäten …“, in dem es hieß: Man muß „die Union der Sozialistischen Republiken bestehen lassen und festigen; über diese Maßnahme kann kein Zweifel sein. Wir brauchen sie ebenso wie das kommunistische Weltproletariat für den Kampf gegen die Weltbourgeoisie und für die Verteidigung gegen ihre Intrigen.“[6]

Der proletarische Internationalismus, der sozialistische Internationalismus ist das Grundlegende. Er ist die größte Kraft für die Entwicklung des Sozialismus in jedem einzelnen Lande, er ist die stärkste Waffe im Kampf gegen den Imperialismus.

Anmerkungen:

  1. Tagebuch der Sekretäre W. I. Lenins, Dietz-Verlag, Berlin 1965, S. 32
  2. MEW, Bd. 4, S. 416
  3. MEW, Bd. 16, S. 14
  4. LW, Bd. 2, S. 101 f.
  5. LW, Bd. 30, S. 489
  6. LW, Bd. 36, S. 594