RotFuchs 207 – April 2015

Vizepräsident García Linera für gemeinschaftlichen
Sozialismus des „Lebens in Würde“

Die Vision eines bolivianischen Staatsmannes

Gerhard Mertschenk

Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera erklärte in seiner Rede bei der Amtseinführung von Präsident Evo Morales am 22. Januar u. a.:

„Wir Bolivianer und der größte Teil Lateinamerikas durchleben gegenwärtig ein außergewöhnliches Jahrzehnt von Kämpfen und großen Eroberungen für das Volk.

Die Mobilisierung von Volks-, Indigenen-, Bauern-, Arbeiter- und Jugendbewegungen hat die politischen und wirtschaftlichen Strukturen verändert, verändert sie weiterhin und eröffnet somit Raum für die größte Anzahl fortschrittlicher und revolutionärer Regierungen in unserer Geschichte.“

In Teilen Lateinamerikas seien die Naturreichtümer nationalisiert und damit den Staaten des Kontinents die materielle Grundlage der verlorengegangenen Souveränität zurückgegeben worden. „Wir haben den Reichtum unter den Bedürftigsten aufgeteilt und damit Staaten des sozialen Schutzes und der Gleichheit geschaffen. Wir haben die Wirtschaft in Schwung gebracht, sie diversifiziert und dabei auf die Kreativität der Produzenten gesetzt. Millionen Jugendliche haben Zugang zur Schul- und Hochschulbildung gefunden, und ebenso viele zu Arbeitsplätzen, so daß bei ihnen die Hoffnung auf würdige Heimatländer wiedergeboren wurde.

Der Kontinent bricht mit obszönen Vormundschaften und Patenschaften und hat seine Fähigkeit wiedergewonnen, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden.

Die jahrhundertelang unterdrückten indigenen Nationen, die jahrzehntelang ausgebeuteten sozialen Bewegungen haben nicht nur die historische Gestaltungsrolle zurückgewonnen, sondern, wie in Bolivien, sich zur Staatsmacht aufgeschwungen und führen heute das Land. In zehn Jahren ist man weiter vorangekommen als in den zurückliegenden 200 Jahren. Aber dabei bleibt es nicht.

Das revolutionäre Erwachen der Völker hat den Horizont für viel tiefer greifendere, viel demokratischere, viel kommunitärere, d. h. sozialistische Möglichkeiten eröffnet, auf die wir nicht verzichten dürfen, es sei denn mit dem Risiko einer konservativen Restauration, in der nicht einmal das Gedenken an die Toten gesichert wäre.“

Sozialismus sei „kein parteigebundenes Etikett“, erklärte García Linera. „Sozialismus ist aber auch kein Dekret, weil das bedeuten würde, die kollektive Aktion des Volkes auf eine administrative Entscheidung von Funktionären und öffentlich Bediensteten zu reduzieren.

Der Kapitalismus ist eine Zivilisation, die alle Aspekte des Lebens einer Maschinerie zur Akkumulation von Profiten unterordnet. Angefangen beim Handel über Produktion, Wissenschaft und Technik, Bildung, Politik, Freizeit, selbst die Natur, alles, absolut alles ist pervertiert worden, um der Diktatur des Profits unterworfen zu werden.

Eines Tages muß der Kapitalismus als Gesellschaft ersetzt werden, notwendigerweise durch eine andere Zivilisation, die all diese heutzutage existierenden gemeinschaftlichen, aber dem privaten Profit unterworfenen Kräfte und Mächte weltweit freisetzt und ausstrahlen läßt.

Marx nannte das die universelle Gemeinschaft, andere nennen sie das Welt-Ayllu (traditionelle Dorfgemeinde in den Anden – RF), wieder andere das Leben in Würde.

Aber damit diese neue gemeinschaftliche Zivilisation siegreich ist, bedarf es eines langen und komplizierten Übergangsprozesses, einer Brücke. Und diese Brücke ist, was wir Sozialismus nennen.

Der Sozialismus ist das Schlachtfeld innerhalb eines jeden nationalen Territoriums, auf dem sich eine herrschende Zivilisation, der noch bestehende, aber dekadente Kapitalismus, und die neue, aus den Lücken und Schrunden sowie dem Kapitalismus eigenen Widersprüchen aufstrebende gemeinschaftliche Zivilisation gegenüberstehen.

Die Gemeinschaftlichkeit ist zu Beginn in der Minderheit wie Wassertropfen in der Wüste, dann wie winzige Rinnsale, die hin und wieder auch austrocknen, abrupt unterbrochen werden, um danach wieder zu entstehen, sich auf lange Sicht vereinen und zu einem Bach werden, dann zu einem Fluß, zu einem Strom, zu einem See und schließlich zu einem Meer.

Der Sozialismus ist ... das Schlachtfeld zwischen dem Neuen und dem Alten, zwischen dem herrschenden Kapitalismus und der aufständischen Gemeinschaftlichkeit. Das ist die alte, noch mehrheitlich kapitalistische Ökonomie, die schrittweise von der aufkommenden neuen gemeinschaftlichen Wirtschaft belagert wird.

Sozialismus ist überbordende Demokratie ..., ist Überwindung der fossilen Demokratie, in der die Regierten lediglich die Regierenden wählen, aber nicht an den Entscheidungen über die öffentlichen Angelegenheiten beteiligt sind.

Sozialismus ist repräsentative Demokratie im Parlament plus gemeinschaftliche Demokratie in den ländlichen und städtischen Gemeinschaften plus direkte Demokratie auf der Straße und in den Fabriken. Alles zugleich und alles inmitten einer revolutionären Regierung, eines Staates der sozialen Bewegungen, der einfachen und bedürftigen Klassen.

SoziaIismus besteht darin, daß die Demokratie in all ihren Formen sämtliche alltäglichen Aktivitäten der Bewohner eines Landes einbezieht und durchdringt, von der Kultur bis zur Politik, von der Wirtschaft bis zur Bildung.

Und natürlich ist Sozialismus der nationale und internationale Kampf um die Erweiterung des Gemeinbesitzes und der gemeinschaftlichen Handhabung dieser Gemeingüter wie Wasser, Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Technik, Umwelt ...

Sozialismus ist also ein langer Übergangsprozeß, in dem der revolutionäre Staat und die sozialen Bewegungen sich zusammentun, damit Tag für Tag neue Entscheidungen demokratisiert werden; damit Tag für Tag mehr wirtschaftliche Aktivitäten in die gemeinschaftliche Logik übergeführt werden statt in die Logik des Profits.

Und da wir diese Revolution von den Anden her, von Amazonien her, aus den Tälern heraus, aus den Tiefebenen und dem Chaco vollziehen – Regionen, die geprägt sind von einer Geschichte alter lokaler gemeinschaftlicher Zivilisationen –, ist also unser Sozialismus wegen seiner Zukunft ein gemeinschaftlicher.

Wir Revolutionäre sind nicht gekommen, um den Kapitalismus besser oder humanitärer zu verwalten. Wir sind hier, haben gekämpft und werden weiter kämpfen, um die große universelle Gemeinschaft der Völker zu errichten.“