RotFuchs 214 – November 2015

Ein Bunkersystem der ČSR sollte auch das Sudetengebiet
vor Hitlers Einfall schützen

Die Wagners von Petrovice

Dipl.-Ing. Arndt Bretschneider

Aus dem Infanteriebunker beim Schmied von Petrovice (Petersdorf) hinter dem Hochwald im Lausitzer Gebirge ist nie ein Schuß gefallen. Dennoch verliefen die Schicksals­jahre 1938/39 für das kleine Land im Herzen Europas alles andere als friedlich. Zuerst erfolgte – sanktioniert durch das Münchner Abkommen – die Heraustrennung des Sudetengebietes, kurz darauf marschierte die faschistische Wehrmacht auch in alle anderen Landesteile ein. Hitlers Deutsches Reich machte daraus zwei Vasallen: Einen davon bezeichneten die Faschisten als Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, den anderen erklärten sie zum scheinselb­ständigen Staat Slowakei, der von ihren dortigen Gesinnungsgenossen verwaltet wurde.

Fast idyllisch gelegen, von sieben stattlichen Birken umgeben, versteckt sich heute in unmittelbarer Nähe der einstigen Schmiede von Petrovice einer der vielen tschechi­schen Betonbunker, die das Land vor einem nazideutschen Überfall schützen oder dem Aggressor wenigstens so lange Verluste beibringen sollten, bis der Bündnispakt mit Frankreich und Großbritannien wirksam geworden wäre. Doch es kam bekanntlich ganz anders. So auch im damaligen Petersdorf.

Großvater Adolf Richard Wagner, ein Deutscher, hatte Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts einen Teil seines Grundstücks verkauft. Auf dem Rest der Fläche waren vom Bunkerbau erhebliche Schäden zurückgeblieben. So machte Wagner seinem Ärger in einer Eingabe an die Behörden Luft und verlangte eine Entschädigung von 5000 tschechischen Kronen, was etwa 1670 Reichsmark entsprach. Eine Kopie dieses Dokuments befindet sich noch heute im Besitz des Enkels Jan Wagner, allerdings kein Zahlungsbeleg. Der ersten Tschechoslowakischen Republik blieb ja auch gar keine Zeit mehr, um jemanden zu entschädigen, wurde sie doch schon Anfang 1939 gänzlich zerschlagen. Die Bunker aber sind fast alle erhalten geblieben und legen von dem enormen Kraft- und Geldaufwand Zeugnis ab, den das westslawische Land damals auch in seinen deutschprachigen Gebieten zum eigenen Schutz betrieb.

Der Bunker in Hausnähe diente dem deutschen Schmiedemeister Alfred Feix als Vorratskeller. Bald machte sich aber ein beim Bau begangener Fehler bemerkbar. Regenwasser sickerte durch die Decke. Deshalb stieß seine friedliche Nachnutzung an Grenzen. Es bildeten sich Stalagtiten wie in einer Tropfsteinhöhle, am Bunker­boden sammelte sich Wasser, was das Bauwerk unbrauchbar machte.

In dem Gebirgsdorf und um dieses war von der ČSR ein Verteidigungssystem errichtet worden, erwartete man doch entlang der schnurgeraden Gablerstraße von Zittau her einen Vorstoß der deutschen Faschisten. Deshalb befindet sich auf freiem Feld knapp 200 Meter vom Anwesen entfernt schon der nächste Bunker. Hier kam es zu einer Nutzung, jedoch erst später und unter sehr speziellen Bedingungen. In die von den Umsiedlungsmaßnahmen betroffenen Dörfer wurden nach Kriegsende tschechische Grenzer verlegt. Später trafen auch Familien aus dem Landesinnern ein.

Mit der seltenen, mehr oder weniger friedlichen Nutzung der Bunker sind erzählens­werte Schicksale verbunden. Noch heute schmerzen Wunden von damals und tun sich bisweilen Klüfte auf, die des Krieges Hader schuf. Der Großvater von Jan Wagner hatte es 1938 abgelehnt, Reichsdeutscher zu werden, obwohl seine Vorfahren seit dem 30jährigen Krieg hier gelebt hatten. Allein diese Tatsache wirkte polarisierend. Der Käufer des Teilgrundstücks Alfred Feix entwickelte sich nämlich zu einem strammen Parteigänger der fünften Kolonne Hitlers, der Henlein-Leute. So oder ähnlich verhielten sich die meisten Sudetendeutschen.

Als sich dann im September 1938 die Möglichkeit einer militärischen Konfrontation abzeichnete, zog es Feix vor, mit seiner Familie über die Grenze nach Zittau zu türmen. Nicht grundlos fürchtete er Vergeltung für sein antitschechisches Verhalten. Die Verteidigungsbunker in der Nähe mögen ihn zusätzlich dazu bewogen haben, hätten sie doch gewiß das Feuer der Hitlerwehrmacht auf sich gelenkt. Nachdem aber alles dort harmlos verlaufen war, kehrte seine Familie zurück und wohnte dort bis Kriegsende.

Die Wagner-Großeltern und der verheiratete Sohn Adolf wie dessen Frau waren statt dessen im Haus geblieben. Adolf wollte den ertragsarmen Kleinbauernhof aber nicht übernehmen und suchte sich anderswo Arbeit. Dort wurde er im Laufe der Zeit ein sudetendeutscher Sozialdemokrat und Hitlergegner.

Die Spannung in den beiden nahe beieinander liegenden Häusern war alsbald mit Händen zu greifen. Zwei Tage nach dem faschistischen Heim-ins-Reich-Holen des Sudetenlandes nahm man Adolf fest und steckte ihn in ein KZ mit dem Aktenvermerk „Rückkehr unerwünscht“. Das kam einem Todesurteil nahezu gleich. So begann sein fünfjähriger Leidensweg. Er dauerte bis Ende 1943, als die Menschenverluste an der Ostfront unbeschreibliche Ausmaße annahmen. Jetzt bekam auch der „minderwerti­gere Teil des Volkskörpers“ eine Chance, sich an der Front zu bewähren. Eine lebens­gefährliche Erkrankung ersparte Adolf Wagner jedoch den Einsatz in vorderster Linie. Da man mit seinem baldigen Ableben rechnete, sprach man ihm in Dresden eine Invaliditätsrente von monatlich 10 Reichsmark zu. Schließlich überlebte er dank der Bemühungen eines Zittauer Arztes, kehrte 1945 nach Petrovice zurück und konnte endlich eine Familie gründen.

In den letzten Kriegstagen war es im Dorf zu einem Ereignis gekommen, das sich für die Bewohner des Bunker-Grundstückes günstig auswirkte. Es muß wohl am 7. oder 8. Mai gewesen sein, daß zwei junge Frauen in Sträflingskleidung an die Tür der Wagners klopften. Die Mutter ließ beide herein und versorgte sie mit Essen und Trinken. Helena war Polin, Ruth eine ungarische Jüdin. Kein anderer Dorfbewohner hatte ihnen auch nur die Tür geöffnet, geschweige denn geholfen. Ihre christliche Grundhaltung, die auch heute im Hause Wagner vorherrscht, hatte die Mutter ihre damals keineswegs leichte Entscheidung treffen lassen.

Nachdem die beiden jungen Frauen etwas gestärkt weitergezogen waren, tauchten erste Rotarmisten auf und erkundigten sich nach den Wagners. Ein Offizier, dem man das Anwesen gezeigt hatte, schrieb mit kyrillischen Lettern an die Haustür: „Hier leben hilfsbereite Menschen.“ Sämtliche später den Ort passierende oder dort kampierende sowjetische und polnische Soldaten respektierten diesen Satz. Niemand krümmte der großen Familie Wagner auch nur ein Haar.

Einige Monate nach dieser Episode begann die durch das Potsdamer Abkommen der vier Alliierten der Antihitlerkoalition sanktionierte Aussiedlung fast aller Deutschen, die damals in der ČSR lebten. In Petrovice rückten auf Jahre Grenzer ein. 1970 konnte das gesamte Grundstück der Wagners vom sozialistischen tschechoslowa­kischen Staat günstig erworben werden. Das war in bezug auf dort lebende Deutsche sicher eine Ausnahme, welche wohl die geschilderten Gründe hatte.