RotFuchs 225 – Oktober 2016

Die „Wende“ war keine Wende zum Besseren

Maja Nowak

Am 26. Dezember 2006 schrieb ich in mein Tagebuch: Zur Wende war ich elf Jahre alt. Sie riß ein tiefes Loch in die Entwicklung der Jahrgänge 1974–1980. Diejenigen, die vorher geboren worden waren, hatten ihre schulische Entwicklung weitestgehend hinter sich, und jene, die später auf die Welt kamen, hatten ihre schulische Entwicklung noch vor sich. Nur wir – wir waren mittendrin. Die Einschulung lag sechs Jahre zurück und der Schulabschluß sollte uns erst in vier bzw. sechs Jahren sicher sein. Wir hatten also gerade mal die Hälfte geschafft. Die Polytechnischen Oberschulen, auf die wir seit der 1. Klasse gegangen waren und in denen wir auch die 10. Klasse abschließen sollten, gab es auf einmal nicht mehr. Das Schulsystem wurde von heute auf morgen umstrukturiert und dem Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland angeglichen. Klassen wurden auseinandergerissen. Freundschaften entzweit. Man wurde selektiert und etikettiert, um dann irgendwann wieder rehabilitiert zu werden. Das Umfeld brach in sich zusammen. Und wir steckten mittendrin. Man war zusammen in der Kinderkrippe, man ging zusammen in den Kindergarten, man wurde zusammen eingeschult, und man sollte doch auch die Schule gemeinsam beenden. Man kannte sich schließlich schon seit gut zehn Jahren. Die gemeinsamen Wege sollten sich erst mit ca. 16 Jahren trennen.

Mit der Umstrukturierung des Schulsystems verschwanden auch der Hort, die Arbeitsgemeinschaften, die Timur-Hilfe, das Altstoffe-Sammeln, Gruppenrat, Fahnenappell und acht Wochen Sommerferien. Mit der sozialistischen Vaterlandserziehung gab es dann auch bestimmte Lehrinhalte nicht mehr. Nicht in Fächern wie Deutsch oder Mathematik. Die Regeln der Kommasetzung und die Prozentrechnung wurden beibehalten. Das, was uns in dieser Zeit eindeutig vermittelt wurde, war Unsicherheit. Einstige Werte hat man durch „freie, demokratische und kapitalistische Werte“ ersetzt. Ohne Vorwarnung.

Kaum ein Lehrer war in der Lage, seinen Unterricht so weiterzuführen, wie er es vor dem 3. Oktober 1990 getan hätte. Anstelle von Russisch mußten wir nun Französisch lernen, anstatt des „Heiderösleins“ wurde Michael Jackson im Musikunterricht präsentiert. Das Fach „Werken“ wurde durch Arbeits- und Hauswirtschaftslehre ausgetauscht. Anstelle von Walter Ulbricht und Erich Honecker waren jetzt Konrad Adenauer und Helmut Kohl die Väter der Nation. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Ernst Thälmann mußten aus unserem Geschichtsbild getilgt werden, um später auch im Osten die Kinokassen für Steven Spielberg klingeln zu lassen.

Herr Fuchs, Frau Elster, Moppi, Schnatterinchen, Pittiplatsch und der Sandmann wurden durch die Sesamstraße ersetzt. Anstelle von Elf 99, Mobil und „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser!“, durften wir nun auch endlich „McGyver“ und das „A-Team“ gucken …

Anstelle des Frauen- und des Kindertages bekamen wir den Buß- und Bettag. Der Haushaltstag, den unsere Mütter einmal im Monat nahmen, war für jedes Kind ein Fest. Dieser Haushaltstag war nun nicht mehr nötig, da die meisten sowieso erst mal ihre Arbeit verloren und eh zu Hause waren.

Die Kopfnoten fielen weg, und wir bekamen eine neue Note, die 6. Eine nichtssagende Zahl, die einfach nur deutlich machen sollte, daß man schlechter als schlecht ist. Und plötzlich stand der 8. Mai nicht mehr unter dem roten Stern, sondern unter „Stars & Stripes“, dem „Union Jack“ und der „Trikolore“. Feinde sollten auf einmal Freunde sein und Freunde auf einmal Feinde. Wir sollten nicht länger im Dienste von Hammer, Zirkel und Ährenkranz stehen. Wir wurden zu gewöhnlichem „Schwarz, Rot, Gold“, um uns dann später wieder zu noch gewöhnlicheren „Ossis“ degradieren zu lassen. Der Hammer fiel weg, weil die Industrie nicht der des Westens entsprach, der Zirkel fiel weg, weil die Universitätsabschlüsse angeblich nicht den Vorstellungen des Westens entsprachen, und der Ährenkranz fiel weg, weil die Ländereien/LPGs von der Treuhand zerpflückt wurden. Es gab niemanden, der uns in dieser Zeit zuhören, ja gar Lösungsvorschläge hätte unterbreiten können.

Arbeitslosigkeit war für uns früher ein Furunkel des Kapitalismus. Nun waren wir selbst betroffen. Einer nach dem anderen. Eine ausgebildete Bevölkerung wurde plötzlich zu abhängigen Bittstellern degradiert. Und das, was der Westen Mitte bis Ende 1989 so bejubelt hatte, wurde nun zum eigentlichen Sündenbock aller Probleme erklärt. Das, was bei den Montags-Demos in Leipzig gefordert wurde, ist nicht das, was wir bekamen. Es war ein schlechter „Deal“.

Frauen im Osten wurden zu „Rabenmüttern“, weil sie studierten und arbeiten gingen. Und genau in diesem Chaos, in dem wir in unserer schulischen Entwicklung standen, wurden wir aller Werte unserer Eltern und unserer Vorbilder beraubt. „So wachse zusammen, was zusammengehört.“ Ein stolzer Arbeiter-und-Bauern-Staat verkam zu einem manisch-depressiven, kränkelnden und nicht beachtenswerten Klotz am Bein des ehemaligen „Feindes“. Der Osten wurde zum Krebsgeschwür des Westens. Man entdeckte die Krankheit, analysierte sie, diskutierte über den Verlauf der drohenden Krankheit, steckte viel Geld in die medikamentöse Behandlung, um festzustellen, daß teure Therapien nicht den gewünschten Erfolg brachten.

Der Abriß eines fertigen Hauses ist kostspielig, der Wiederaufbau noch teurer, aber wider jede Vernunft waren die Architekten und Statiker der Meinung, daß man doch ein Haus auch nur mit Fenstern und Türen bauen könnte. Vielleicht dachte man sich auch, daß man zuerst das Dach bauen könnte, und das Fundament würde dann von allein wachsen. Nun liegen sie da, die einstigen Häuser. Bedeckt mit neuen, schönen Dächern. Nun, es sind ja auch nur die schönen, neuen Dächer, die man von weitem und von oben blitzen sieht. Majestätisch und großzügig sieht man sie leuchten in den „blühenden Landschaften“ des Ostens. Die Symptome konnten hier und da behandelt werden, das Krebsgeschwür jedoch, das ist nach wie vor da.