RotFuchs 227 – Dezember 2016

Ein bewegendes historisches Dokument aus Brasilien

Dilma Rousseff:
„Laßt nicht nach im Kampf!“

RotFuchs-Redaktion

Heute hat der Bundessenat eine Entscheidung getroffen, die in die Geschichte der großen Ungerechtigkeiten eingeht. Die Senatoren, die für das „Impeachment“ stimmten, haben sich für eine Verfassungsverletzung ausgesprochen. Sie entschieden sich dafür, den Regierungsauftrag einer Präsidentin zu unterbrechen, die kein Verbrechen der Verantwortlichkeit begangen hat. Sie verurteilten eine Unschuldige und vollzogen einen parlamentarischen Putsch.

Mit der Zustimmung zu meiner endgültigen Entfernung aus dem Amt haben – zusammen mit Politikern, die verzweifelt versuchen, dem Arm der Justiz zu entkommen – diejenigen die Macht übernommen, die in den letzten vier Wahlen besiegt worden waren. Sie gelangen nicht durch die direkte Wahl an die Regierung, wie ich und Lula dies 2002, 2006, 2010 und 2014 getan haben. Sie eignen sich die Macht durch einen Staatsstreich an.

Dilma Rousseff bei ihrer Rede vor dem Senat

Dilma Rousseff bei ihrer
Rede vor dem Senat

Es ist dies der zweite Staatsstreich, mit dem ich in meinem Leben konfrontiert werde. Der erste, unterstützt von dem Schrecken der Waffen, der Repression und der Folter, traf mich, als ich eine junge Aktivistin war. Der zweite parlamentarische Putsch, der heute in Form einer legalen Farce stattfand, enthob mich des Amtes, in das ich vom Volk gewählt worden war.

Es handelt sich um eine eindeutig indirekte Wahl, bei der der Wille von 61 Senatoren den ersetzte, der in 54 000 000 Wählerstimmen zum Ausdruck gebracht worden war. Es ist ein Betrug, gegen den wir noch bei allen möglichen Instanzen vorgehen werden.

Es überrascht, daß die größte Aktion unserer Geschichte gegen die Korruption, mittels verabschiedeter Maßnahmen und seit 2003 erlassener Gesetze, die von meiner Regierung vertieft wurde, dazu geführt hat, daß ausgerechnet eine Gruppe der Korruptesten, gegen die ermittelt wird, an die Macht kommt.

Das nationale progressive, alle umfassende und demokratische Projekt, für das ich stehe, wird von einer mächtigen konservativen und reaktionären Macht unterbrochen, die von einer parteiischen und käuflichen Presse unterstützt wird. Sie haben die Institutionen des Staates gekapert, um sie in den Dienst des radikalsten wirtschaftlichen Liberalismus und des sozialen Rückschritts zu stellen.

Sie haben den ersten weiblichen Präsidenten in Brasilien gestürzt, ohne daß es für diesen politischen Prozeß irgendeine konstitutionelle Grundlage gegeben hätte.

Aber der Putsch, der gerade stattgefunden hat, richtet sich nicht nur gegen mich und meine Partei. Das war nur der Anfang. Der Putsch trifft unterschiedslos jede politisch progressive und demokratische Organisation.

Der Putsch ist gegen die sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen und gegen jene gerichtet, die für die Rechte in all ihren Formen kämpfen: das Recht auf Arbeit und der Schutz der Arbeitsgesetze, das Recht auf eine gerechte Rente, das Recht auf Wohnung und Land, das Recht auf Bildung, Gesundheit, Kultur, das Recht der Jugend, ihre Geschichte selbst zu bestimmen, die Rechte der Schwarzen, der Indigenen, der Frauen, das Recht zu sprechen, ohne unter Druck gesetzt zu werden.

Der Putsch ist gegen das Volk und das Land. Der Putsch ist frauenfeindlich. Der Putsch ist homophobisch. Der Putsch ist rassistisch. Er ist die Auferlegung einer Kultur der Intoleranz, der Vorurteile und der Gewalt.

Ich bitte Brasilien und die Brasilianer, mich anzuhören. Ich spreche zu den über 54 Millionen, die mich 2014 gewählt haben. Ich spreche zu den 110 Millionen, die die direkte Wahl als Form der Präsidentenwahl unterstützen. Ich spreche vor allem zu den Brasilianern, die unter meiner Regierungszeit der Armut entronnen sind, die sich den Traum eines Hauses erfüllen konnten, die jetzt medizinisch betreut werden, zur Universität gehen und aufgehört haben, innerhalb des Landes unsichtbar zu sein, die jetzt Rechte haben, die ihnen bis dahin immer verweigert worden waren.

Die Fassungslosigkeit und der Schmerz, die uns in Momenten wie diesen überkommen, sind schlechte Ratgeber. Laßt nicht nach im Kampf!

Hört gut zu: Sie glauben, sie hätten uns besiegt, aber sie irren sich. Ich weiß, daß alle kämpfen werden. Sie werden die standhafteste, unermüdlichste, voller Energie steckende Opposition gegen sich haben, die eine Putschregierung sich nur denken kann.

Als Präsident Lula 2003 zum ersten Mal gewählt wurde, sangen wir, und als wir an die Regierung kamen, daß keiner Angst davor haben solle, glücklich zu sein. Über 13 Jahre lang haben wir erfolgreich ein Projekt vorangetrieben, das die größte soziale Inklusion (Einschluß von Menschen unterschiedlicher Art in die Gesellschaft, d. Red.) und die höchste Verminderung der Ungleichheiten in der Geschichte unseres Landes zur Folge hatte.

Die Geschichte endet nicht auf diese Weise. Ich bin sicher, daß die Unterbrechung dieses Prozesses durch den Staatsstreich nicht endgültig ist. Wir kommen zurück – um unsere Reise hin zu einem Brasilien fortzusetzen, wo das Volk souverän ist.

Ich hoffe, daß wir in der Lage sind, uns in Verteidigung der für alle Progressiven gemeinsamen Sache zu vereinen, unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit oder politischen Position. Ich schlage vor, daß wir alle zusammen gegen den Rückschritt kämpfen, gegen die konservative Agenda, gegen die Auslöschung der Rechte, für die nationale Souveränität und die volle Wiederherstellung der Demokratie.

Ich habe die Präsidentschaft verlassen, wie ich sie betreten habe: ohne mich auf irgendeine illegale Handlung eingelassen zu haben, ohne irgendeine meiner Verpflichtungen verraten zu haben; mit Würde und immer noch derselben Liebe und Bewunderung für die braslianischen Männer und Frauen und demselben Willen, weiterhin für Brasilien zu kämpfen.

Ich habe meine Wahrheit gelebt. Ich habe das Beste gegeben, zu dem ich fähig war. Mich bewegte das menschliche Leiden, ich war ergriffen vom Kampf gegen die Armut und den Hunger, ich bekämpfte die Ungleichheit.

Ich ließ mich auf gute Kämpfe ein. Ich habe einige verloren, viele gewonnen und in diesem Augenblick fühle ich mich von Darcy Ribeiro inspiriert um zu sagen: Ich würde nicht gern an der Stelle jener sein, die sich als Sieger betrachten. Die Geschichte wird unerbittlich mit ihnen sein.

Die Frauen Brasiliens, die mich mit Blumen und Zuneigung bedeckt haben, bitte ich zu glauben, daß man es schaffen kann. Die zukünftigen Generationen von Brasilianerinnen werden erfahren, daß, als zum ersten Mal eine Frau die Präsidentschaft Brasiliens übernahm, der „Machismo“ und die Frauenfeindlichkeit ihr häßlichstes Gesicht zeigten. Wir haben den Weg eröffnet, die Einbahnstraße, die zur Gleichheit der Geschlechter führt. Nichts wird uns dazu bringen, zurückzuweichen.

In diesem Moment werde ich euch nicht Lebewohl sagen. Ich bin sicher, daß man sagen kann: Bis bald!

Ich möchte zum Schluß mit euch eine wunderschöne Inspiration des russischen Dichters Majakowski teilen:

Wir sind nicht zufrieden, natürlich nicht,
aber warum sollten wir traurig sein?
Das Meer der Geschichte ist sehr bewegt.
Die Bedrohungen und die Kriege,
wir müssen sie überstehen.
Wir brechen sie in der Mitte durch,
wir schneiden sie durch,
wie der Kiel das Meer durchschneidet.

Eine feste Umarmung an alle Brasilianer, die mit mir den Glauben an die Demokratie und den Traum von Gerechtigkeit teilen.

Donnerstag, den 1. September 2016

Aus „Granma“, Oktober 2016