RotFuchs 194 – März 2014

Warum Heinz Keßler auf die DDR-Raketentruppen stolz sein kann

Ein Elite-Verband, der nie zum Einsatz kam

Siegfried R. Krebs

Der Militärverlag Berlin hat unlängst ein Buch über „Die Raketentruppen der NVA“ herausgebracht. Es wendet sich weniger an waffentechnisch interessierte Spezialisten und mehr an militärpolitisch und geschichtlich engagierte Leser. In einem Geleitwort betont Armeegeneral a. D. Heinz Keßler, früher Verteidigungsminister der DDR, daß er noch heute stolz auf diese Elitetruppe der Nationalen Volksarmee sei. Ihn erfülle ein Gefühl der Genugtuung darüber, daß ihre Soldaten und Offiziere nie zum Einsatz gekommen seien.

Herausgeber Kurt Schmidt, wie die anderen Mitautoren selbst einst Angehöriger dieser Hauptfeuerkraft der DDR-Landstreitkräfte, stellt fest: „Die Raketentruppen (…) existierten keine drei Jahrzehnte. Und sie verfügten gerade einmal über ein reichliches halbes Hundert taktischer und operativ-taktischer Raketen, weitaus weniger als die Hälfte dessen, was die Bundeswehr besaß. Die NVA-Raketen waren mit konventionellen Sprengköpfen bestückt, denn die DDR war zu allen Zeiten frei von dem Wunsch, Nuklearwaffen besitzen zu wollen.“

Das erste Kapitel betrachtet den 1962 begonnenen Aufbau der NVA-Raketentruppen im internationalen politischen Kontext – anders, als das in nahezu allen Mainstream-Publikationen über die DDR gehandhabt wird. Und gerade das Eingehen auf weltpolitische Hintergründe und Zusammenhänge macht den Wert dieses Buches aus. Deutlich wird gleich in mehreren Kapiteln, daß die Sowjetunion und die Warschauer Vertragsstaaten auch bei der Formierung und Ausbildung der Raketentruppen stets nur auf entsprechende Entwicklungen im Arsenal der USA und der NATO reagiert haben. Erinnert sei hier an den berüchtigten NATO-Doppelbeschluß.

Die Autoren vermitteln einen aussagekräftigen Überblick zur Einordnung der beiden Raketenbrigaden und der selbständigen Raketenabteilungen der Divisionen in die Struktur NVA-Landstreitkräfte.

Auf die mehr technikbezogenen Kapitel wie „Ballistische Kampfraketen“, „Raketentruppen und Kernwaffen“, „Die Ausbildung in den Raketentruppen der NVA“ und „Die Sicherstellung der Raketentruppen im Gefecht“ soll hier nicht näher eingegangen werden.

Sehr aufschlußreich sind Ausführungen zu den „Raketentruppen der NVA in den 80er Jahren, deren Auflösung und Abwicklung“. Hier geht es um das feindliche Verhalten von Bundesregierung und Bundeswehr gegenüber den Militärs der DDR, aber auch um das verantwortungslose Verhalten der Clique Gorbatschows und Jelzins bei der Rückführung der brisanten Waffentechnik nach Rußland.

Das Nachwort des Buches vermittelt einen detaillierten Überblick zu diversen Waffensystemen der Raketentruppen und der Artillerie. Es enthält auch den Redetext eines früheren NVA-Stabsoffiziers aus dem Jahr 2011, in dem es heißt: „Kanzleramt und Bonner Hardthöhe mißtrauten der ostdeutschen Armee zutiefst. Das Feindbild, dessen Existenz immer bestritten worden war, lebte fort und wurde nunmehr auch innenpolitisch sichtbar. Ziel war die restlose Delegitimierung der Nationalen Volksarmee, verbunden mit pauschaler Diffamierung ihrer Soldaten. Da fiel auch nicht ins Gewicht, daß die Nationale Volksarmee im Herbst 1989 die Waffen nicht gegen das Volk gerichtet hatte.“

Sehr informativ sind überdies Angaben zum Schicksal der Berufsmilitärs der deutschen Friedensarmee nach dem 3. Oktober 1990 und über deren bis heute anhaltende Diffamierung. „Die angeblich vorbildhafte Vereinigung der Streitkräfte war in Wirklichkeit eine Abwicklung der Nationalen Volksarmee“, heißt es hierzu.

Eine Reihe von Anlagen vermittelt dem Leser eine exakte Information über die beiden Verbände und alle selbständigen Truppenteile der NVA-Raketentruppen (Bezeichnung, Tarnname, Aufstellungsdatum, Standort, Struktur, Kurzchronik, Kommandeure. Vorgestellt werden auch die Chefs der Raketentruppen und der Artillerie, weitere leitende Offiziere dieser Waffengattung sowie die Technik der einzelnen Raketenkomplexe.

Den Autoren dieses Sammelbandes ist zuzustimmen, wenn sie feststellen, daß eine objektive historische Einordnung der NVA insgesamt wie ihrer Raketentruppen nur möglich ist, wenn man sie in einen kritischen Vergleich mit der Bundeswehr stellt. Sie werden in dieser Frage aktuell: „1999, neun Jahre nach dem Ende von DDR und NVA, nehmen erstmals wieder deutsche Soldaten aktiv an einem Krieg teil. Auf dem Balkan, der in den 40er Jahren schon einmal mit faschistisch-deutschen Waffen umgepflügt worden war.

Im Juni 2013 befanden sich etwa 6300 deutsche Soldaten in Auslandseinsätzen, die meisten davon in Afghanistan, 103 verloren dabei ihr Leben.“

Da ist der Stolz Heinz Keßlers, daß Soldaten der NVA zu keiner Zeit an kriegerischen Handlungen beteiligt waren, durchaus verständlich. Er war tatsächlich Chef einer Armee, die sich ausschließlich der Landesverteidigung verschrieben hatte und nicht zur weltweiten Durchsetzung deutscher Großmacht- und Kapitalinteressen verpflichtet war.

Fazit: Dieses Buch haben weder „unpolitische“ Waffen- oder Techniknarren noch DDR-Delegitimierer ohne Sachverstand geschrieben, sondern durchaus kritische Insider mit einem umfassenden Wissen und mit einer komplexen Sicht auf das Thema. Herausgekommen ist eine wahre militärhistorische Fundgrube.

Kurt Schmidt (Hrsg.):

Die Raketentruppen der NVA

Militärverlag in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Berlin 2013
224 Seiten mit Abb.
ISBN 978-3-360-02717-7

19,95 Euro