RotFuchs 224 – September 2016

Ein historischer Appell aus Hiroshima

Shinzo Hamai

Vor 71 Jahren, am 6. August 1945, fiel die erste Atombombe. Drei Jahre danach fand in Stuttgart eine erste Gedenkstunde statt – auch die vielen folgenden wurden zumeist mit einer Botschaft aus Hiroshima eingeleitet. Im Sommer 1962 nahm der damalige Bürgermeister, Shinzo Hamai, an einer Friedenskonferenz („World without the bomb“) in Accra teil, weshalb sein Appell die Veranstalter, eine „Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Friedensverbände“ in jenem Jahr erst mit Verspätung erreichte.

IDK, Stuttgart, 1962

Heute gedenken wir jenes für Hiroshima so grauenvollen Tages. Und obwohl jetzt schon 17 Jahre seit damals vergangen sind, können wir uns noch mit erschreckender Lebhaftigkeit an die Ereignisse jenes furchtbaren Tages erinnern. Das äußerste an Qualen und Martern, das Menschen sich jemals ausdenken konnten, an jenem Tage kam es über uns. Mit unseren eigenen Augen wurden wir Zeugen dieser entsetzlichen Szenen: Menschen, gezwungen, den Pfad der Hölle zu gehen, Menschen mit leeren Augenhöhlen, Menschen mit verstümmelten Armen und Beinen, Menschen als lebende Fackeln in den rasenden Bränden; wir sahen unsere geliebten Kinder, Frauen und Männer auf unvorstellbare Weise umkommen. Aber es war keine Naturkatastrophe, die außerhalb der menschlichen Kontrolle stand, nein, es war eine Katastrophe, ausgelöst durch menschlichen Willen.

Unser wiederholtes Nachdenken über die Ereignisse dieses Tages brachte uns zu der Erkenntnis, daß seine Bedeutung weit über das Schicksal einer einzigen Stadt oder eines einzigen Staates hinausgeht. Deshalb legten wir unseren Kummer und unseren ohnmächtigen Zorn beiseite und wandten uns an alle Völker, an alle Menschen, uns dafür einsetzend, daß sich ein gleiches Verbrechen niemals wiederhole. Wieder einmal richten wir diesen Appell an die Menschheit, um unserer tiefen Sorge Ausdruck zu geben.

Das grauenvolle Blutbad und die riesigen Zerstörungen während des zweiten Weltkriegs übertreffen wohl bei weitem die Folgen der Katastrophe Hiroshimas. Was aber hier betont werden sollte, ist deren Art, weniger ihr Ausmaß. Verglichen mit den gigantischen nuklearen Waffen von heute nehmen sich die Bomben von Hiroshima und Nagasaki wie winzige Zwerge aus. Aber während wir vor der ganzen Welt die verheerenden Folgen dieser einzigen Miniatur-Bombe bezeugten, bedrückte uns ein schrecklicher Gedanke: Wir sahen voraus, daß es für die immer rascher voranschreitende Wissenschaft und Industrie nicht völlig unmöglich wäre, wenn sie sich auf zerstörerische und mörderische Ziele konzentrieren würde, schließlich eine Waffe herauszubringen, mit der die totale Vernichtung der Menschheit mit einem einzigen Knopfdruck leicht und schnell durchgeführt werden könnte. Wie die vergangenen

17 Jahre bewiesen haben, näherte sich die Wirklichkeit immer mehr unserer Vorahnung. Dies sollte tatsächlich die Lehre von Hiroshima und gleichzeitig eine eindringliche Warnung sein!

Die Bombe von Hiroshima hatte eine Stärke von 20 000 Tonnen TNT. Nach zuverlässigen Meldungen werden aber heute von den USA wie von der UdSSR Bomben hergestellt und getestet im Bereich von 10 bis 100 Megatonnen TNT. Allein die Vorstellung, daß eine 100-Megatonnen-Bombe die 5000fache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe hat, ist nahezu unmöglich. Darüber hinaus sind diese schrecklichen Bomben heute nicht mehr das Monopol einer begrenzten Zahl von Staaten. Sollten die gegnerischen Nationen offene Feindseligkeiten gegeneinander beginnen und dabei diese Bomben voll einsetzen, so besteht kein Zweifel, daß beide, Washington und Moskau, schon in den ersten Anfängen des Krieges völlig vernichtet würden, wobei mehrere Millionen Menschen in einem einzigen Augenblick getötet würden. Schlimmer noch ist, daß die Zerstörung nicht auf die kriegführenden Nationen beschränkt sein würde; die radioaktiven Ausfallprodukte der explodierten Bomben würden vielmehr über die ganze Erde niedergehen. Das aber würde die restlose Auslöschung allen Lebens bedeuten.

Ursprünglich entstand der Krieg wohl zur Verteidigung eines Landes oder eines Volkes. In diesem Atomzeitalter sollte es jedoch völlig klar sein, daß ein Krieg mit diesem Ziel nicht mehr zu vereinbaren ist. Wäre etwa eine Verteidigung denkbar, die diesen schrecklichen Waffen wirksam begegnen könnte? Wie berichtet wird, bauen einige Länder unterirdische Bunker, wobei sie allen Ernstes glauben, sich dadurch vor der Vernichtung durch diese Waffen schützen zu können. Angenommen, sie überstünden den eigentlichen Schlag lebend, wie könnten Menschen der sich über die ganze Erde verbreitenden Radioaktivität entgehen? Man sollte endlich erkennen, daß es heute völlig sinnlos ist zu hoffen, man könne in einer Art Arche Noah dem Untergang entkommen.

Im Falle Hiroshimas hatten nicht wenige Menschen von außerhalb versucht, in die ausgebombte Stadt zu gelangen und erste Hilfe zu bringen – sie wurden ein Opfer der Radioaktivität, erholten sich nie, der Tod war der einzige Dank für ihre Menschlichkeit. Zurückgebliebenes radioaktives Material hatte sie gemordet. Das zwingt uns zu der einleuchtenden Folgerung, daß schon ein nuklearer Test eine durch kein moralisches System entschuldbare Sünde ist, bringt er doch direkt oder indirekt durch die Vergiftung der Atmosphäre und der Ozeane unendliches Leid über die Menschheit.

Dumdumgeschosse, Bakterien und Giftgas sind durch internationales Gesetz als Waffen verboten mit der Begründung, sie seien unmenschlich. Jeder Versuch, bei dem die unmenschlichen nuklearen Waffen benutzt werden, sollte als ein grober Verstoß gegen das Völkerrecht angesehen werden.

Wenn im Namen der Gerechtigkeit die Verletzer des Völkerrechts verurteilt werden können, so müßten zuerst diejenigen, die nukleare Waffen benutzt haben, bestraft werden. Weiterhin ist zu beachten, welch riesige wirtschaftliche Last der Menschheit durch das gegenwärtige Wettrüsten aufgebürdet ist. Die Bürger unterwerfen sich willig, verführt durch den doch durchaus annehmbaren Gedanken der „nationalen Verteidigung“. Wirkliche Verteidigung aber liegt nicht in einer sich immer mehr steigernden militärischen Expansion, nein, sie liegt vielmehr in einer sofortigen Beendigung des Wettrüstens. Diese Tatsache klar zu erkennen und die Regierungen dazu zu drängen, eine schnelle Übereinkunft mit ihrem Gegner über ein Verbot der Kernwaffen wie über eine allgemeine und völlige Abrüstung zu erzielen, das, so glauben wir, wäre ein Zeichen höchster Weisheit.

Ein sofortiges Ende sollte dem vorhandenen Teufelskreis von nuklearen Tests und militärischer Expansion gesetzt werden. Heute bedeuten einzelne Staaten nicht mehr die größte Gemeinschaft, in der Menschen zusammen dasselbe Schicksal tragen. Die ganze Welt ist zur einen menschlichen Gemeinschaft geworden, in der jeder das Los des Nächsten teilt. Wir sollten es uns nicht erlauben, Kriege zuzulassen, die den Selbstmord der Menschheit bedeuten würden und die Zerstörung von Städten wie Washington, Moskau, London, Paris, Tokio oder irgendeiner anderen Stadt der Welt mit sich bringen. Im Licht der menschlichen Solidarität ist jede von ihnen ein unschätzbares Zeugnis jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Bemühungen unserer Ahnen. Der Mißbrauch von Wissenschaft und Schaffenskraft, den Blüten des menschlichen Geistes, zu völliger Zerstörung und Ausrottung ist offensichtlich das schrecklichste Verbrechen, zu dem menschliche Wesen fähig wären.

Heute, da wir den 17. Jahrestag der Bombardierung Hiroshimas begehen, drücken wir unsere tiefste Sorge über die gegenwärtige internationale Situation mit ihren dauernden, gefährlichen Krisen aus und rufen es wieder einmal hinaus in alle Welt: Dulden wir keine Wiederholung solchen Verbrechens!

Shinzo Hamai, Bürgermeister von Hiroshima (6. August 1962)