RotFuchs 217 – Februar 2016

„Die gepanzerte Doris“ zog kleine DDR-Leser in ihren Bann

Ein Kinderbuch von Ruth Werner

Marianne Walz

Es steht zwischen den Zeilen in den Büchern von Ruth Werner (1907–2000), geborene Ursula Maria Kuczynski: Die Schriftstellerei war ihr eine Herzensangelegenheit. Doch erst im Alter von über 50 nach Vollendung eines außergewöhnlichen Lebenswerkes im antifaschistischen Widerstand und als Kundschafterin der Sowjetunion, war sie ihrer dichterischen Berufung gefolgt. Mit „Sonjas Rapport“, dem Selbstzeugnis über ein in steter Todesgefahr an der unsichtbaren Front verbrachtes Kämpferleben, wurde sie 1977 einem breiten Publikum bekannt. In den meisten ihrer Bücher spricht Ruth Werner heranwachsende Leserinnen und Leser an. Sie, die ihre eigenen Kinder unter gefahrvollen Bedingungen gebar und großzog, beschreibt den kostbaren, einfachen Frieden. Da ist ein Kind, das zwei gute Eltern hat. Die neunjährige Gerti begegnet einem ihr fremdartigen, urtümlichen Wesen. Sie gewinnt es lieb und muß schließlich mit einem schmerzlichen Verlust fertig werden. Diese 1973 zuerst erschienene Geschichte vermittelt neben ihrer unaufdringlich politischen Aussage auch eine naturwissenschaftlich-ökologische Botschaft. Allein wegen der brandaktuellen Stellungnahme für die bedrohte Lebenswelt verdient „Die gepanzerte Doris“ eine Neuauflage. Gertrud Zucker hatte die Ausgabe des Kinderbuchverlags illustriert.

Gerti mit ihrer Doris
Grafik: Gertrud Zucker

Ruth Werner, zweifache Rotbannerorden-Trägerin und Offizierin der Roten Armee a. D.  im Range eines Oberst, erzählt über „Die gepanzerte Doris“. Doch weder von einer sowjetischen Panzersoldatin noch der Kommandeurin eines NVA-Kettenfahrzeuges ist die Rede, sondern von einer südeuropäischen Landschildkröte. Ein Reptil also, das stammesgeschichtlich seit über 200 Millionen Jahren die Erde bewohnt und das als Individuum doppelt so alt wie ein Mensch werden kann. Die Tiere mit wissenschaftlichem Namen Testudo hermanni sind heute in Zoohandlungen käuflich und gerade deshalb in ihren natürlichen Habitaten bedroht. Gertis Vater, in der Volksrepublik Bulgarien als Monteur unterwegs, hatte eine solche Schildkröte hilflos in städtischer Umgebung aufgefunden und seiner Tochter zum Geburtstag nach Hause geschickt. Gerti, dritte Klasse, entziffert auf der Sendung neben ihrer Adresse die Etiketten „Lebende Fracht“, „Aufrecht stellen“, „nicht schütteln“, packt vorsichtig aus – und nimmt sich der unfreiwillig Zugereisten an. „Die Schildkröte ist ganz allein in einem fremden Land. Sicher fürchtet sie sich und hat Heimweh.“ Das Kind weiß: „Alle Tiere mit vier Beinen haben ein Herz“, sucht nach weiteren Informationen im Lexikon des Herrn Meyer, denkt über Grundsätzliches nach: „Gibt es großes Wichtiges und kleines Wichtiges? Bestimmt man selbst, was wichtig war? Kann man es sich aussuchen?“ und fragt schließlich die Mutter. „Bei wichtigen Dingen durfte Gerti ans Chemische Labor telefonieren. Ein vor Hunger sterbendes Geburtstagsgeschenk war wichtig.“ Das bedeutet, um 1975 hatte in Berlin/DDR kein sogenannter Arbeitgeber einklagbare Hoheitsrechte über eine Frau und Mutter zwischen deren Arbeitsbeginn und -ende gekauft. Von dieser zurückhaltenden Art ist das Politisch-Gesellschaftliche in Ruth Werners Kinderbuch. Nur bei der Namensverleihung für Gertis neue Freundin wird es etwas akzentuierter. Das Mädchen will ihr Haustier „Achter Mai“ nennen, und die Mutter erwidert: „(…) ,Du kannst doch die Schildkröte nicht nach unserem Tag der Befreiung nennen. Das ist unernst.‘ – ‚Aber Menschen kann man so nennen?‘ fragte Gerti (…). ‚Vaters Brigade heißt so, und das sind Menschen.‘ Die Mutter zögerte. ‚Vielleicht als Nachname´, sagte sie. ‚Gut‘, erwiderte Gerti, ‚und als Vorname Doris.‘ So hieß die Schildkröte ‚Doris Achtermai‘.“

Ruth Werner und ihr Mann Len Burton

Gerti lernt Doris’ Bedürfnisse kennen und respektieren, beschützt sie vor den noch unwissenden Geburtstagsgästen und verteidigt sie heldenhaft gegen Klaus Schöpke, einen stadtviertelbekannten jungen Rabauken. Die Sommerferien verbringt Doris mit Gerti, den Eltern und Bruder Rolf am Ostseestrand, muß dort eine eigensinnige Hundebesitzerin und deren Liebling Benno ertragen, aber darf an langer Leine gesichert im Sand buddeln. Ein kluger, freundlicher Strandburgnachbar läßt sich von Doris zum Erzählen einer Abenteuergeschichte über Schildkröten und Menschen anregen: Einst meuterten die Seeleute eines Seglers gegen den tyrannischen Kapitän. „Die Mannschaft übernahm das Schiff. Aber niemand hatte den Aufstand richtig vorbereitet. Er war wie von selbst gekommen. Das ginge noch. Viel schlimmer war, daß niemand überlegte, wie es weitergehen sollte.“ Eine Metapher auf die Tragik verlorener Revolutionen? Vielleicht! Doch weiter mit den gepanzerten Tieren: Fast verdurstet notlandeten die Seeleute auf einer unbekannten Insel, die nur von Riesenschildkröten bevölkert war. Schiffsjunge Pedro findet auf deren Rücken laufend durch den Dschungel zur Wasserquelle, die Menschen trinken daraus und sind gerettet. Sie stärken sich mit dem wohlschmeckenden Fleisch der großen Meeresbewohner und reisen weiter. Die Legende habe später den Handel mit der Delikatesse befeuert. „Heute sind nur noch ganz wenige (Meeresschildkröten) am Leben“, beendet der Miturlauber seine Erzählung.

Auch Gertis Schildkröte geht verloren. Ihre Sicherheitsleine versagt am letzten Strandferientag. Das Mädchen sucht vergeblich nach Doris Achtermai, trauert zu Hause vor dem leeren Terrarium, doch besinnt sich: „Ich weiß doch, es gibt Millionen Tiere auf der Welt, und dauernd sterben welche, und dauernd gibt es neue – bei Menschen ist es auch so. Immer ist man traurig, wenn etwas fortgeht, das man liebhat.“ In Gerti formt sich eine Vision; sie will Naturforscherin werden, und sie teilt sich dem Vater mit: „Kann man zum Beispiel durch Nachdenken aufhören zu weinen oder gar nicht erst anfangen?“ – „Du meinst, den Verstand benutzen, um mit dem Kummer fertig zu werden? Das ist ein sehr guter Weg!“