RotFuchs 218 – März 2016

Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene Rotfüchse

Ein Mädchen aus Randberlin (Teil 2)

Christa Kožik

Jeden Morgen um sechs fuhr ich jetzt mit dem Bus von Stahnsdorf nach Potsdam und von dort in die beliebte Blütenstadt Werder. Die Fahrt war lang, das frühe Aufstehen fiel schwer, und Landkarten zeichnen erschien mir nicht gerade als Traumberuf. Aber ich hatte Mutter versprochen, eine Lehrausbildung zu machen, um bald selbst Geld zu verdienen.

In Werder befand sich neben der Gaststätte „Zur goldenen Kugel“ eine große braune Holzbaracke. Hier wurden wir zu kartographischen Zeichnern ausgebildet. Auf kreidiertem Barrytkarton mit chinesischer Tusche, Fadenzähler und allerfeinsten Stahlfedern lernten wir Signaturen zeichnen, also Straßen, Wege, Häuser, Mauern, Zäune, Flüsse, Bäche, Schlösser auf zehntel Millimeter Genauigkeit.

Unsere Abschlußarbeit waren Kartenblätter im Maßstab 1:10 000. Das hieß: Es handelte sich um Generalstabskarten. Daß wir jeden Tag nach Feierabend unsere Blätter in eine Mappe tun und mit einem Siegel, Petschaft genannt, verschließen mußten, betrachteten wir als Geheimniskrämerei. Andererseits fanden wir es toll, daß unsere Arbeit für so wichtig gehalten wurde. An meinem Zeichnerberuf gefiel mir, daß wir schöne Schriften lernten. Ich liebte es, Briefe mit der Hand zu schreiben – in Schönschrift wie Goethe oder Hölderlin. Die Handschrift, hatte ich gelesen, sei der Abdruck der Seele.

Diese Leidenschaft ist mir geblieben. Sollte man die Schreibschrift abschaffen, nimmt man dem Menschen ein Stück seiner Identität. Auch meine Liebe zu Büchern verfestigte sich. Besonders liebte ich damals Gedichte von Hölderlin, Neruda, Lorca, Baudelaire, Brecht und Kästner. In dieser Zeit habe ich mir eine Geheimschrift für mein Tagebuch ausgedacht. Ich benutze sie noch heute.

Nach einigen Monaten spürte ich schmerzlich, daß mir dieser Beruf keine Freude machte. Die Genauigkeit auf Zehntelmillimeter ließ mir ja keinen Spielraum fürs Kreative. Es langweilte mich, drei Monate am gleichen Kartenblatt zu sitzen. Gern hätte ich ein Schaf oder eine Blume hineingemalt. Meine Phantasie stand mir im Wege.

Es gab noch ein Hemmnis: Ich stand mit den Zahlen auf Kriegsfuß. Logarithmentafeln trieben mir den Schweiß auf die Stirn. Probleme hatte ich auch mit dem Kompaß. Bei einer Waldwanderung, zu der jeder mit einem solchen Gerät allein losgeschickt wurde, ging ich verloren. Viele Stunden später fand man mich heulend auf einem Baumstumpf, den Kompaß in der Hand. Nein, das war nicht mein Beruf!

Meiner kranken Mutter zuliebe biß ich die Zähne zusammen. Recht und schlecht gelang es mir, 1959 den Facharbeiterabschluß zu machen. Dann zog es mich nach Berlin, in die große Stadt, über deren Konturen der Himmel nach Sonnenuntergang vom Widerschein des geheimnisvollen Nachtlebens zu leuchten begann. Ich fand schnell eine Stelle als Zeichnerin im Geologischen Institut in der Invalidenstraße 44, zwischen Naturkundemuseum und Oberstem Gericht der DDR. Ab September 1959 hatte ich dort geologische Karten anzufertigen.

Mein erster Arbeitstag als Zeichnerin im Herzen Berlins! Was für ein großartiges Gefühl der Freiheit! Ich hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung, verdiente im Monat 400 Mark, konnte meine Mutter finanziell unterstützen und mich zugleich etwas aus ihrer allzu engen Umklammerung lösen. Von Stahnsdorf bis Berlin-Friedrichstraße fuhr man mit der S-Bahn etwa eine halbe Stunde. Damals war die Gegend um die Friedrichstraße das Herz Ostberlins. Hier standen die Staatsoper, das Berliner Ensemble, das Deutsche Theater, die Humboldt-Universität, die Nationalgalerie – alles Stätten zur Befriedigung meines Hungers auf Kultur und Bildung. Der Robert-Koch-Platz mit der Akademie der Künste lag meiner Arbeitsstelle direkt gegenüber. Wie viele Kunstausstellungen und Lesungen bedeutender Schriftsteller habe ich hier erlebt, wie viele bewegende Filme in Anwesenheit der Künstler gesehen.

In den Mittagspausen flanierte ich die Invalidenstraße hinunter, vorbei am Naturkundemuseum, der Nachtbar „Kakadu“ und dem großen Neubau vom DDR-Außenhandel. Rechts bog ich in die Chausseestraße ein und befand mich wenige Meter weiter vor einem Antiquariat, das für mich eine Schatzkiste alter, begehrter Bücher war.

Direkt daneben war das große eiserne Tor zum Dorotheenstädtischen Friedhof, der letzten Ruhestätte so vieler großer Geister. Manche Mittagspause habe ich in der grünen Stille dieses Friedhofs in Zwiesprache mit den Gestorbenen verbracht. Durch Zufall geriet ich einmal in die Trauerfeier Heinrich Manns, dessen Urne aus Kalifornien überführt worden war. Unter den Anwesenden erkannte ich Walter Ulbricht.

An einen strahlenden Frühlingstag im April 1961 erinnere ich mich noch ganz besonders. Im Radio vernahmen wir die Nachricht, ein Russe befinde sich im Weltall. In seiner Raumkapsel „Wostok“ umkreiste er 90 Minuten lang die Erde. Wir verließen unsere Zeichentische, rannten auf die Straße und schauten begeistert in den Himmel, ja winkten sogar, als könne uns dieser Juri Gagarin sehen. Ein Mensch im Weltall! Das erschien uns wie ein Wunder. Eine volksfestartige Stimmung beherrschte die Invalidenstraße. Wir umarmten einander, weil wir in unserer Naivität glaubten, daß damit der Weltfrieden für immer gesichert sei. Diese Jahre waren ja eine Periode des eiskalten Krieges zwischen Ost und West. Die Einheit Deutschlands stand nicht mehr auf der Tagesordnung, und die Nationalhymne mit Bechers Text „Deutschland, einig Vaterland“ wurde schon lange nicht mehr gesungen, weil sich beide Teile Deutschlands konträr entwickelt hatten.

Mich interessierte das damals zwar, aber nicht allzu brennend. Mein Kopf war voll heiterer Gedanken, denn ich hatte mich verliebt und verlobt – in und mit Axel, einem Chemiestudenten. Dann kam der 13. August 1961. Am Sonntagmorgen stand Axel an meinem Bett in Stahnsdorf. „Berlin ist geteilt – durch eine Mauer.“ Wir konnten es nicht glauben und rannten zum S-Bahnhof Stahnsdorf. Dort erblickten wir eine Menschenansammlung und sahen die an den Eingängen heruntergelassenen eisernen Gitter. Davor standen Soldaten mit starren Gesichtern, die beschimpft wurden.

Ja, Berlin war jetzt eine geteilte Stadt. Was das wirklich bedeutete, erfaßten wir in jenen Tagen noch nicht. Ich fühlte mich immer rastlos, wie auf der Suche. Was ich suchte, wußte ich damals indes noch nicht. Jetzt weiß ich es: Ich war auf der Suche nach mir selbst, nach meinen ureigensten Möglichkeiten.