RotFuchs 220 – Mai 2016

Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene Rotfüchse

Ein Mädchen aus Randberlin
(Teil 3 und Schluß)

Christa Kožik

Im Jahr 1961, dem Jahr der deutschen Mauer, war ich zwanzig Jahre jung, verliebt und verlobt mit Axel, einem Chemiestudenten. Für mich war die Teilung der Stadt Berlin und Deutschlands erst mal plausibel: Um den wirtschaftlichen Ausverkauf der DDR wegen der schwächeren Währung zu verhindern, mußten Grenzen gezogen werden. Wir hofften, daß es eine Übergangslösung sein wird. Die Worte meiner Mutter, der Mensch dürfe nie vergessen, wo seine Wurzeln sind, hatte ich verinnerlicht. Meine Vorfahren waren arme Leute. Wir sahen in der DDR die Ermutigung und Chance, am Aufbau eines sozialistischen Landes, einer Solidargemeinschaft für die einfachen Menschen, mitzuwirken. Dazu bedurfte es keiner kommunistischen Erziehung, es war für mich eher ein Prinzip der Vernunft. Auch die guten Gesetze für Frauen in der DDR waren mir bewußt.

Christa Kożik am Mikrophon beim ersten Potsdamer Lyrikabend 1963

Christa Kożik am Mikrophon
beim ersten Potsdamer
Lyrikabend 1963

Aber das Mädchen aus Randberlin hatte durch die geschlossenen Grenzen jetzt einen sehr weiten Weg zur Arbeit nach Berlin. Der S-Bahnhof in Stahnsdorf blieb gesperrt. Ich fuhr mit dem Bus bis zum Bahnhof Genshagener Heide, dann mit dem Doppelstockzug „Sputnik“ bis Berlin-Karlshorst, von dort mit der S-Bahn bis zur Friedrichstraße. Das waren 2 bis 3 Stunden Hinweg und 2 bis 3 Stunden Heimweg. Zwar konnte ich mir die Fahrzeit mit Bücherlesen versüßen, doch länger als ein halbes Jahr hielt ich nicht durch. Um meine Arbeit als Zeichnerin im Geologischen Institut und den geliebten Kulturmittelpunkt zu erhalten, besorgte ich mir ein Zimmer zur Untermiete in Berlin. Doch als Axels Mutter für lange Zeit ins Krankenhaus mußte, gab ich auf sein Drängen hin Berlin auf. Arbeit als Zeichnerin fand ich im Forstinstitut in Potsdam.

Unsere Heirat war schon geplant, aber dann kam alles ganz anders. Ich fand einen Liebesbrief, der nicht an mich gerichtet war, machte einen hilflosen Selbstmordversuch, indem ich alle Tabletten aus der Hausapotheke schluckte. Axel fand mich wie das schlafende Schneewittchen, spülte mir den Magen aus (als Chemiker konnte er das) und holte mich zurück. Drei Tage war ich ein todunglückliches Mädchen, dann raffte ich mich auf und löste die Verlobung. Wir vereinbarten, uns auf den Tag genau in einem Jahr wiederzusehen. In der Silvesternacht 1962/63 lernte ich durch einen Zufall Christian Kożik kennen, Pianist und Musiklehrer, blitzblaue Augen, pechschwarze Haare, Frohnatur, der jedem das Singen beibringen konnte.

Der Zufall des Kennenlernens sei hier kurz erzählt. Ich hatte mir in Potsdam in der Straße der Jugend ein kleines Zimmer besorgt. An Möbeln besaß ich nur einen Tisch, einen Stuhl, eine Matratze, eine Truhe mit Büchern und einen eisernen Ofen. Einige Tage vor Silvester ging ich mit einem schweren Koffer über den Bassinplatz in Potsdam. Ein junger Mann mit Fotoapparat sprach mich an, fragte, ob er mich fotografieren dürfe. Er nahm mir auch den Koffer ab und trug ihn ein Stück. Dann stöhnte er, daß dieser sehr schwer sei, was ich denn da drin hätte? Steine? „Nein, Kohlen“, lachte ich.“ Vor der Tür stellte er meinen Kohlenkoffer ab und lud mich zur Silvesterfeier bei seinem Freund ein. Ich lehnte ab, wollte allein sein, aber als dieser Mann mit dem schönen Namen Arvid, sagte, man wolle dort zur Feier gemeinsam die Neunte Sinfonie aus dem Radio hören, bekam ich Lust. Ich schnitt mir ins schwarze Samtkleid meiner Mutter einen verwegenen Ausschnitt und kam mit Arvid zur Feier in die Wohnung zu Christian und seiner Wirtin Friedel in Babelsberg. Die Augen des schönen Christian lagen auf mir. Wir hörten Beethovens erhabene Musik, und mitternachts zog mich Christian hinter die langen Vorhänge am Fenster. Seine Küsse wirkten wie kleine Blitze, während draußen die Raketen krachten und die Glocken läuteten.

So begann für mich das Jahr 1963. Es hatte im Schnellgang weitere Überraschungen bereit. Bei meiner Freundin Babsi im Buchladen lernte ich den Schriftsteller Herbert Otto kennen. Als er hörte, daß ich Gedichte schrieb, riet er mir, mich für den ersten Potsdamer Lyrikabend zu bewerben, der von der FDJ und dem Schriftstellerverband organisiert wurde. Ich reichte Gedichte ein, wurde ausgewählt und sollte am 22. Februar 1963 abends im Klubhaus „Walter Junker“ mit anderen Jungdichtern lesen. Ich war damals noch sehr schüchtern, und beinahe wäre alles schiefgegangen. Als ich die vielen Leute vor dem Klubhaus sah, bekam ich große Angst. Die Karten sind ausverkauft, sagte eine Platzanweiserin zu mir. Also ging ich weg, aber meine Disziplin ließ mich doch zurückkehren, vielleicht wartete man ja auf mich? Und so war es dann auch. In letzter Minute wurde ich auf die Bühne geschubst; neben mir saß der bekannte Potsdamer Schriftsteller Hans Marchwitza. Mit zitternden Knien trug ich meine Gedichte vor. Ich erwartete Buhrufe oder Schweigen. Aber es geschah ein Wunder. Man klatschte sehr, und die Presse lobte mich. Gisela Steineckert und Heinz Kahlau bescheinigten mir Talent. So las ich es in der „Märkischen Volksstimme“. Darauf folgte die Einladung zum 2. Lyrikabend im Berliner „Kosmos“-Filmtheater Anfang April. Dort lasen u. a. Kuba, Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Franz Fühmann, Manfred Krug u. v. a. Krug und Ekkehard Schall sangen. Und ich las mein neuestes Gedicht „Ihr Mädchen von 17 und älter.“ Es sind da Zeilen drin, wie „es ist unsre Zeit, die euch streichelt, sie gibt euch den festen Blick …“ oder „… Ihr habt die Zeit überrundet, seid nicht mehr Gefühlsdepot. Das Glück wird euch nicht mehr gestundet, Ihr nehmt es euch täglich en gros …“

Ich fand das Gedicht nicht so toll, es hatte aber offensichtlich einen Nerv getroffen und wurde in vielen Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Auch Lotte Ulbricht, der Erfinderin der Frauenausschüsse, hatte es gefallen, und so wurde ich Ende April zu ihrem 60. Geburtstag eingeladen. Als Geschenk sollte ich ihr das Gedicht, in schöner Handschrift geschrieben, in einer Mappe überreichen. Lotte dankte und lobte mich, und ich war erstaunt, mich im „Augenzeugen“ wiederzufinden – und von Freunden verspottet zu werden.

Christian, mein neuer Liebesgefährte, war weiterhin mein treuer Begleiter. Ich wurde Mitglied des Zirkels Schreibender Arbeiter unter der Leitung des Schriftstellers Franz Fabian, was mir nach der Arbeit riesigen Spaß machte. Im Juli 1963 heirateten Christian und ich. Christa und Christian, das schien mir passend. Im Dezember 1963 kam unser erster Sohn Adrian zur Welt. Und aus dem Mädchen aus Randberlin wurde eine junge freche Frau.