RotFuchs 219 – April 2016

Von der „Kirche im Sozialismus“ zur Hofkirche des Kapitals

Ein persönliches Bekenntnis

Ulrich Guhl

Immer wenn ich mir eine historische Kirche anschaue – und das tue ich sehr gern – ist das für mich eine Reise in die eigene Vergangenheit. Viele Jahre lang war ich kirchlich sehr engagiert. Heute mag es Menschen, die mich kennen, fast unglaublich erscheinen, daß es Zeiten gab, in denen ich sogar darüber nachdachte, Theologie zu studieren.

In meinem Elternhaus herrschte während meiner Kindheit und Jugend ein ziemlich kompliziertes Klima, und ich muß gestehen, daß mir auch die Atmosphäre in der Schule mit ihren zum Ritual gewordenen Lobgesängen auf den Sozialismus auf die Nerven ging. Wirklich offene und kritische Diskussionen gab es kaum, und wenn doch, wurden die Kritiker oder einfach auch nur jene, welche unwillkommene Fragen stellten, nicht selten gegängelt. Da traf es sich gut, daß eines Tages der Sohn des neuen Pfarrers meiner Heimatstadt mein Mitschüler wurde. Zwischen uns entstand eine außergewöhnliche Freundschaft, die bis zu seinem viel zu frühen Tod vor wenigen Jahren anhielt.

Bald ging ich im Pfarrhaus aus und ein. Mich faszinierten die offene Atmosphäre, die vielen Bücher und die geistreichen Gespräche. Die Fragen und Probleme junger Menschen wurden ernst genommen. Es gab keine vorgeschriebenen Treue-schwüre, und ich hatte das Gefühl, daß ich hier mit Menschen zu tun hatte, die sich nicht einbildeten, die Wahrheit gepachtet zu haben. Es war ein tolerantes Haus. Die Pfarrersfamilie wie auch die evangelische Kirche in der DDR wurden für mich eine zweite Heimat.

Diese Kirche war nicht selten dem Staat gegenüber sehr kritisch eingestellt, doch hatte ich damals das Empfinden, daß sie im Grunde jene Kritik aussprach, welche nicht wenige Menschen bewegte. Warum werden Defizite nicht offen benannt? Wieso müssen sich unsere Medien in endloser Selbstbeweihräucherung üben? Warum werden Kritiker bedrängt, statt deren Kritik als helfend anzuerkennen? Warum wird der Umweltschutz so vernachlässigt? Diese und andere Fragen konnte man in der Kirche stellen. Hinzu kam die Angst vor einem großen Krieg. Der Alltag in der DDR war oftmals stark von der Gegenwart des Militärs geprägt, was bei uns Angst auslöste. Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden, erschien mir da vernünftig. Zur DDR selbst empfand ich nie Feindschaft. Ich wollte sie durchaus, nur offener, selbstkritischer, weniger verbohrt und nicht im Stechschritt. Auch meine Pfarrersfamilie, glaube ich, empfand so.

Als die DDR zusammenbrach, erlebte ich wie viele andere die Implosion ostdeutscher Hoffnungen und den Einmarsch eines arroganten westlichen Systems voller Defizite. Zu den Enttäuschungen gesellte sich auch die, daß ich erleben mußte, wie die Kirche der DDR von der mächtigen Westkirche geschluckt wurde. Plötzlich war alles anders! Die arme, aber um einiges glaubwürdigere DDR-Kirche versank auf Nimmerwiedersehen mit all ihren Vorsätzen und Schwüren im Schoß der EKD. Ich aber, der ich damals sogar ihr Angestellter wurde, mußte erleben, wie viele ostdeutsche Würdenträger schlagartig die Kirche im Sozialismus beerdigten. Es winkten hohe Beamtengehälter und Privilegien. Endlich war man wieder ein hofierter Teil der Gesellschaft.

Ich spürte, daß so mancher Prediger nur darauf gewartet hatte, endlich wieder Hofprediger sein zu dürfen. Nun war man zu den Fleischtöpfen zurückgekehrt, wurde wieder als VIP (sehr wichtige Person) zu Großereignissen des sich christlich gebenden Staates gerufen, um diesen Segen zu spenden!

Ich wurde das Gefühl nicht los, daß es in der Kirche der DDR viele Amtsträger gab, denen es nie um Frieden, Bürgerrechte und die Umwelt gegangen ist. Für sie war das alles nur Vorwand, um in Wahrheit die privilegierte Staatskirche anzustreben. Die Bürgerrechtsheuchelei überdeckte den eigentlichen Antrieb, nämlich den Haß auf den Sozialismus. Hier wußte man sich mit den allermeisten der sogenannten Bürgerrechtler die Hände zu reichen.

Nach 1990 störte es die Kirche dann plötzlich nicht mehr, Teil eines Staates zu sein, der Kriege führt, und zu einem System zu gehören, das die Umwelt global zerstört. War in der DDR jeder Bausoldat ein Politikum, so ist jetzt die Militärseelsorge eine Selbstverständlichkeit. Der verordnete Antikommunismus und der staatlich tolerierte Faschismus in unterschiedlichem Gewand scheinen kaum einem Würdenträger mehr den Schlaf zu rauben. Fühlt sich etwa jemand durch Rußlandhaß, Kriegspropaganda und Volksverdummung gestört? Wenn man finanziell zu fast 100 Prozent vom Staat alimentiert wird, ist Weggucken eben das 11. Gebot – oder sogar das Erste? Wo bleiben nun die Mahnwachen, die Friedensgebete und die Kanzelpredigten des Protests? Ist denn nirgends ein Dietrich Bonhoeffer in Sicht? Sind sie wieder da, die Deutschen Christen?

Ein in diese Richtung Tendierender sitzt im Schloß Bellevue. Vielleicht habe ich ihm sogar mal als Jugendlicher auf einem Kirchentag zugehört …  Heute wie damals beruft er sich auf jemanden, der Toleranz und Frieden predigte, während er selbst  seinen eigenen Haß in die Welt trägt. Ich erinnere mich, daß mein Pfarrer die Bergpredigt als den vernünftigsten Friedensvertrag der Menschheit bezeichnete. Wenn sich aber ein Haßprediger auf deren Verkünder beruft, kommt mir das so vor, als würde sich ein Amokläufer auf die Unantastbarkeit des Lebens berufen. Doch gerade solche Leute bringen es in diesem Staat mit ihren dem Zeitgeist angepaßten Biographien zu höchsten Weihen und Würden, nachdem sie die ehrlichen Biographien unendlich vieler aufrechter Menschen systematisch zerstört haben. Was ist das für ein Staat, wo falsch’ Zeugnis reden zur Kardinaltugend wird?

Vielleicht, so dämmerte es mir später, war ja die Kirche im Sozialismus dem Ideal des christlichen Glaubens viel näher, als es die Kirchen im Kapitalismus je sein können. Und vielleicht hätte sich ein Jesus in ihr wohler gefühlt. Die Frage ist nur, ob die Kirchen in der DDR das überhaupt aufrichtig wollten …

Doch auch das sei gesagt: Keineswegs alle wurden zu Haßpredigern wie Gauck oder zu eitlen Opportunisten wie Eppelmann, dessen weiterer Lebensverlauf nach 1990 deutlich machte, daß ihn aus Schwertern geschmiedete Pflugscharen nie interessiert haben. Ich bin mir sogar sicher, daß es einigen kirchlichen Würdenträgern im nachhinein dämmerte, daß die Kirche im Sozialismus so falsch nicht gewesen sein kann. Laut zu sagen wagt es aber kaum jemand von jenen, welche 1989 die Bürgercourage anderer einforderten.

Mit der Kirche habe ich nach neun Jahren Dienst und noch länger währender ehrenamtlicher Arbeit gebrochen. Auch mein Glaube kam mir danach mehr und mehr abhanden. Dabei vermisse ich oftmals die Gemeinschaft, die ich zu DDR-Zeiten in der Kirche erlebt habe. Doch das ist Vergangenheit wie die DDR selbst.