RotFuchs 203 – Dezember 2014

Camille Bloch machte keinen Bogen um heiße Eisen

Ein seriöses Buch zur Kriegsschuldfrage

Hans-Joachim Wagner

Mit der Vorgeschichte und Auslösung des Ersten Weltkriegs beschäftigt sich ein schon vor sehr langer Zeit verfaßtes Buch des namhaften französische Historikers Camille Bloch. Als Mitglied einschlägiger Institutionen des Frankreichs der Dritten Republik verfügte er über einen Fundus internationaler Presseerzeugnisse sowie offizieller Veröffentlichungen der in das Vorkriegsgeschehen verstrickten monarchistischen Staaten Europas, den er akribisch auswertete. „Obwohl bereits 1933 in Paris und 1935 in deutscher Übersetzung in Zürich erschienen, ist das Buch keineswegs überholt“, betonte der Herausgeber und Verleger Helmut Donat in seiner Vorankündigung. „Im Dritten Reich verboten, zum ersten Mal der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben“, sei es ein wichtiger „Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über die Kriegsschuldfrage …“ Es geht bei Bloch um die höchst aktuelle Auseinandersetzung mit dem von konservativen Historikern hochgejubelten Werk „Die Schlafwandler“ aus der Feder des Australiers Christopher Clark, der die längst bewiesene Hauptschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg de facto in Frage stellt. Clark bezieht sich weniger auf die nachgewiesenen Fakten, sondern ergeht sich in Mutmaßungen, stellt also Subjektives in den Vordergrund. Ihm geht es weniger um die Frage, welche Ursachen zum Krieg führten, als viel mehr um das „Wie“. Alles, was nicht in sein Schema paßt, läßt er links oder – besser gesagt – rechts liegen. Der Name des Autors Bloch kommt bei ihm überhaupt nicht vor.

Die gegensätzliche Herangehensweise bei der historischen Analyse von Bloch und Clark charakterisiert Helmut Donat in seiner Einführung zu Autor und Werk mit den Worten: „Anders als Clark befaßt sich Bloch nicht mit der Psyche der europäischen Staatsmänner und besteht als kenntnisreicher Archivar auf der historischen Methode. Er lehnt Behauptungen oder Interpretationen ab, die sich auf Dritte oder fremde Autoritäten gründen, der Spekulation Tür und Tor öffnen und somit die Geschichte verfälschen. Bloch läßt die Fakten sprechen, stützt sich allein auf die Quellen, räumt dabei dokumentarischen Zeugnissen den größtmöglichen Raum ein … Gleichwohl liest sich sein Buch wie ein moderner Polit-Thriller. In der enormen Menge der bis zum Tag des Erscheinens seines Buches veröffentlichten Dokumente findet sich – und so ist es auch heute noch – kein Indiz dafür, welches zu der Annahme berechtigt, daß es ohne die konzertierten Aktionen der deutschen und österreichischen Machthaber im August 1914 zu einem Krieg gekommen wäre. Demgegenüber mißt Clark den damals in Europa dominierenden Allianzen (Zweibund aus Deutschland mit Österreich-Ungarn und Entente aus Frankreich, Rußland und Großbritannien) zu gleichen Teilen eine Verantwortung für den Krieg bei. Serbien mit seiner Schutzmacht Rußland wird überdies eine ganz besondere Verantwortung unterstellt. Dagegen erfährt man bei Bloch von der überaus verantwortlichen Zurückhaltung Rußlands und Serbiens bei Übergabe des unannehmbaren Ultimatums Österreichs an Serbien. Clark geht so vor, den Ausdruck „Schuld“ als „falschen Begriff‘ zu bezeichnen und ihn aus der Forschung über den Ersten Weltkrieg verbannen zu wollen. Dabei ist die Schuldfrage historisch eindeutig geklärt, die Beweise sind erdrückend. Camille Bloch führt sie einleuchtend vor.

Besonders hinzuweisen ist bei ihm auf das 14. Kapitel „Die russische Mobilmachung und die deutsche Sozialdemokratie“. Bloch dokumentiert hier im Detail, wie es zu dem Umschwung in den Auffassungen der SPD als einer antimilitaristischen, die deutsch-österreichischen Kriegsvorbereitungen ablehnenden Partei und zur Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 gekommen ist.

So fragt sich: Wer hat noch immer ein Interesse daran, die deutsch-preußische Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg zu leugnen? Was wird damit bezweckt?

Es sind die tonangebenden konservativ-reaktionären Kreise der Wirtschafts- und Finanzwelt mit den von ihnen installierten Politikern (an Bord auch wieder reformistische Kräfte aller Couleur) mitsamt dem Schwarm bürgerlicher Medienmacher, entsprechender Historiker und nach Orden gierender Militärs.

Sie sind sich darin einig, daß Deutschland in Gestalt der BRD wieder eine größere Rolle in der Welt spielen sollte oder – wie es heute heißt: Es muß wieder mehr Verantwortung übernehmen! „Die Propagandisten der Zeit nach 1918, allen voran die Historiker, leisteten mit ihren Unschuldsthesen einen gewichtigen Beitrag zu dem Bestreben von Militärs und Politikern, Deutschlands verlorengegangene Großmachtstellung zurückzugewinnen. Die heutigen Revisionisten sprechen sich zugleich vehement dafür aus, daß es sich bei der Wahrung seiner Interessen erneut auf Gewalt stützen solle“, liest man bei Donat. Da macht es sich gut, die These zu verbreiten, die Deutschen hätten am Ersten Weltkrieg gar keine oder höchstens eine Teilschuld gehabt. Es sei kein imperialer Raub-, sondern ein Verteidigungskrieg infolge von Einkreisung gewesen. Ablenken und Verschleiern war und ist auch heute noch die Devise. Zur Irreführung gehörten die Dolchstoßlegende und das Bestreben, Zusammenhänge zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu leugnen.

„Entlastungslegenden wie ,Wir sind hineingeschlittert’ oder ,Alle waren Schlafwandler’ hindern die Deutschen weiterhin daran, mit ihrer Geschichte ins Reine zu kommen …“ „Die Neuauflage der Unschuldskampagne (durch Clark plus Nachbeter) stellt dazu die intellektuelle Begleitmusik dar und erfüllt den Zweck, den weitgehend friedlich gesinnten Menschen nahezulegen, daß Deutschland wieder Weltpolitik zu betreiben habe und ein solcher Paradigmenwechsel keineswegs im Widerspruch zur Haltung des Kaiserreichs im Jahr 1914 steht …“, konstatiert Helmut Donat.

Ein hochinteressantes Buch, das wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vor nahezu 100 Jahren auch heute politisch brandaktuell ist.

Camille Bloch:

Die Ursachen des Ersten Weltkriegs

Donat-Verlag, Bremen 2014
240 Seiten, 6 Abbildungen
ISBN 978-3-943425-29-1

14,80 Euro