RotFuchs 228 – Januar 2017

Ein tragisches Versäumnis

Prof. Dr. Achim Dippe

In dem im Herbst 2016 erschienenen Buch „Das lange Sterben der Sowjetunion“ von Reinhard Lauterbach unternimmt der Autor den Versuch, den Gründen für den Untergang der UdSSR näher zu kommen. Er untersucht unter politischen, ökonomischen und historischen Aspekten die Prozesse, die zum Sterben der Sowjetunion führten bzw. maßgeblich dazu beitrugen.

Der abgeschlagene und beschädigte Kopf Lenins - ein Mahnmal der Kulturbarbarei und des Antisowjetismus

Der abgeschlagene und beschädigte Kopf Lenins (vom großen Lenin-Denkmal Nikolai Tomskis am heutigen Platz der Vereinten Nationen in Berlin) ist ein Mahnmal der Kulturbarbarei und des Antisowjetismus.

Von Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung in der UdSSR ist meines Erachtens die Analyse der politischen und ökonomischen Strategie der KPdSU nach Stalins Tod. Als Siegerstaat und als unumstrittene Weltmacht aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen, als Atommacht und als eine der führenden Weltraumnationen, die auch bei dem aufgezwungenen Rüstungswettlauf mitzuhalten vermochte, fühlte man sich über viele Jahrzehnte dem Westen gegenüber ebenbürtig, in vieler Hinsicht überlegen, militärisch, waffentechnisch nahezu unangreifbar. Ideologisch fand das seinen Ausdruck in einem Denk- und Glaubensschema, wonach der Siegeszug des Sozialismus unaufhaltsam und die sozialistische Gesellschaftsordnung a priori die überlegene sei. Man war gefangen in einem selbstgesponnenen Netz politischer Wünsche, von Idealisierungen der in der Sowjetunion tatsächlich erreichten Stufe sozialistischer Entwicklung, der Prozesse in den imperialistischen Industriestaaten und in der 3. Welt. Dazu kam der nach 1945 immer stärker hervortretende Anspruch der KPdSU auf Deutungshoheit über den Marxismus-Leninismus.

Für das Brechen des Atombombenmonopols der USA, für die Pionierarbeit im Kosmos und für das erfolgreiche Bestehen im Rüstungswettlauf waren große strategische Entscheidungen getroffen worden, die sich seinerzeit hinsichtlich ihrer Substanz und Tragweite als richtig erwiesen haben. Zugleich sah sich die Partei vor das Problem gestellt, Triebkräfte, ökonomische und finanzielle Hebel und Impulsgeber zu finden, die kontinuierlich Qualitätsarbeit, eine hohe Arbeitsintensität und Verantwortungsbewußtsein stimulierten, die zum effektiven Wirtschaften in den Betrieben, Kolchosen und Sowchosen anregten und daher auch gegen Schlendrian und Gleichgültigkeit vorgingen. Für die KPdSU stand fest: Der Sozialismus muß Antriebe aktivieren und nutzen, die eigentlich zur kleinen Warenproduktion gehören und erst Schritt für Schritt mit sozialistischem Inhalt zu füllen sind. Schon Anfang der 60er Jahre haben Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspraktiker auf die Dialektik von Wertgesetz und sozialistischer Planwirtschaft und deren Beherrschung in der Praxis aufmerksam gemacht. Im Zentrum stand die Frage, wie das vom Wertgesetz geforderte ökonomisch Rationelle in Kombination mit dem sozial Gewünschten und Notwendigen zu einer praktisch machbaren Einheit werden kann.

Ohne Zweifel enthalten alle Schritte zur Schaffung von Rahmenbedingungen für das Wertgesetz mit sozialistischem Vorzeichen viele Unwägbarkeiten und Risiken. Eine andere Art der Planung, andere Planungsgrößen und unumgängliche administrative Festlegungen, getragen von einer starken sozialistischen Staatsmacht, gehörten dazu. Die Herausforderung bestand unter anderem darin, auch mit dem Wertgesetz die ökonomischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im Handel zwischen der Industrie und der Landwirtschaft, das Produktivitätsgefälle zwischen den Sowjetrepubliken, die ökonomischen Privilegien durch die Monopolstellung vieler Produzenten, die außerordentlich hohen Transportkosten und die Optimierung der Standortwahl vieler Produktionen neu anzugehen.

Als hemmend erwies sich, daß eine breite politische und theoretische Diskussion über die widersprüchliche Einheit von Sozialismus und Wertgesetz nach Stalins Tod, in der Wege und Risiken für einen neuen Typ sozialistischen Wirtschaftens in Abwägung aller Vorteile, Probleme und Schwierigkeiten hätten benannt werden können, nicht stattfand.

Überlegungen zu Veränderungen in der zentralen staatlichen Planung und Dezentralisierungsversuche in Betrieben, um dem Wertgesetz mehr Freiraum zu schaffen, wurden – da offensichtlich inhaltlich noch unausgereift – alsbald wieder beendet.

Die zweite Hälfte der 80er Jahre unter der Ägide Gorbatschows kann nicht als Zeit sozialistischen Suchens nach ernsthaften reformerischen Lösungen eingeschätzt werden. Geblendet vom politischen Revisionismus, inspiriert vom Neoliberalismus westlicher Prägung und unter wachsendem Zeitdruck stehend wurde unter seiner Regie eine Flut von Reformprojekten initiiert, die in der Wirtschaft keine Resonanz fanden. In Hauruck-Aktionen sollte das nachgeholt werden, was vier Jahrzehnte lang versäumt worden war. Was übrig blieb, waren „Freiräume für private Initiativen“.

Zu dieser Zeit konnte von einem ernsthaften Willen zu einer grundlegenden Wirtschaftsreform, von Autorität der Partei und gestaltender Kraft des Staates und seiner Organe keine Rede mehr sein. Spätestens hier erwies sich der Verzicht auf eine offene Diskussion mit der gesamten Bevölkerung über die Probleme als Beginn des bald folgenden Endes des sozialistischen Weges in Staat und Gesellschaft. Es wäre darauf angekommen, den wirtschaftlichen und politischen Kurs in wichtigen Punkten zu korrigieren. Die KPdSU war als mobilisierende und organisierende Kraft nicht mehr in der Lage, diese große Aufgabe anzugehen und schrittweise zu lösen. Die Massenverbundenheit der Partei war durch bürokratische Methoden in vielen Parteileitungen, durch nicht mehr zeitgerechte Formen der Parteiarbeit und durch Kompetenzstreitereien zwischen staatlichen Leitern und Parteifunktionären erheblich zurückgegangen. Die Diskrepanz zwischen den Beschlüssen höchster Parteigremien und den realen Sorgen und Bedürfnissen der Bevölkerung wurde immer größer.

Wahrscheinlich haben einige Spitzenfunktionäre der KPdSU die Größe, Kompliziertheit und Komplexität einer Wirtschaftsreform für die Sowjetunion gesehen. Doch eine Orientierung der Partei auf eine solche Herausforderung hat es nicht gegeben. An der Spitze der Partei fehlte es offensichtlich an Identifikation mit dem Inhalt und den Zielen einer Wirtschaftsreform, an der Bereitschaft und dem Willen, mit persönlichem Einsatz dafür zu kämpfen. Die Sicherung der täglichen Wirtschaftsabläufe, die Überwindung von Schwierigkeiten und die Beseitigung von ständig auftretenden Engpässen in der Produktion und im Handel haben die KPdSU zweifellos sehr viel Kraft gekostet und dazu beigetragen, strategisches Denken und Arbeiten zu vernachlässigen.

Das Nichtvertrauen in die eigene Mobilisierungs- und Orientierungskraft sowie der ständig wachsende ökonomische, finanzielle und militärische Druck der USA und der NATO auf die Sowjetunion waren maßgebliche Faktoren, welche die Ausarbeitung einer vorausschauenden strategischen Konzeption verhinderten. So blieb es bei der Erarbeitung von Fünfjahrplänen für die Volkswirtschaft und Programmen für zweigliche und regionale Entwicklungen unter Beibehaltung aller Defizite im Wirtschaftsmechanismus. Die Erfahrungen und Erkenntnisse – gesammelt bei der Ausarbeitung strategisch angelegter technologischer Großprojekte (Kosmosprogramm, U-Boot-Bau, Raketenschirm) – waren nicht übertragbar auf die Konzipierung und Umsetzung einer neuen Wirtschaftsstrategie in der Sowjetunion. So bitter es klingt, in der existenzentscheidenden Situation für den Sozialismus hatte die KPdSU keine tragfähige und belastbare politische und ökonomische Strategie. Die Nichtinangriffnahme einer Wirtschaftsreform in der Sowjetunion und ihr vor allem ökonomisch bedingtes Sterben sind nach meiner Ansicht keine Bestätigung für die oft postulierte These von der Unvereinbarkeit von Sozialismus und Wertgesetz.