RotFuchs 220 – Mai 2016

Zu den Geschichtsfälschungen gehören
auch Verschweigen und Auslassen

Eine Berliner Rechtsanwältin
bezieht Position

Beate Wesenberg-Schlosser

Seit mehr als einem Jahr lese ich regelmäßig den ,RotFuchs‘. Und genauso lange brennen mir Stellungnahmen, Erwiderungen, Ergänzungen zu vielen Ihrer Themen auf der Seele.

Mein Einstieg soll ein Brief an Herrn Michael Schaper, Redaktion GEO, sein, den ich Ihnen zur Verfügung stelle.

Zwei Sätze zu mir: Ich bin 62, Urberlinerin, Rechtsanwältin (nach dem Jurastudium an der Humboldt-Universität zu Berlin) und ein Kind der DDR, was ich zu keiner Zeit verleugnet habe. Ich weiß, was ich diesem Land verdanke und was der Großteil seiner Bevölkerung – allen Angriffen zum Trotz – vermochte, um in 40 Jahren den ersten Friedensstaat in der deutschen Geschichte zu errichten, einen Staat, der sich weltweiter Anerkennung und Achtung sicher sein konnte.

Hier Auszüge aus dem redaktionell leicht bearbeiteten Brief:

Sehr geehrter Herr Schaper,

wohl wissend, daß mein Anliegen nicht unbedingt in Ihren Kompetenzbereich fällt, wende ich mich dennoch an Sie. Ich bin der Auffassung, meine Intentionen sollten wenigstens einem der verantwortlichen Herausgeber der „GEO EPOCHE“ bekannt sein.

Der Grund, der mich zu dieser Bitte veranlaßt, ist die (nicht allein aus meiner Sicht) sehr einseitige und zudem tendenziöse Darstellung der Geschehnisse, bezogen auf das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Entwicklung in verschiedenen Ländern danach.

Die Tendenz wird sich nicht nur allein in der Auswahl der Länder in diesem Heft, sondern auch aus den jeweiligen Inhalten, erkennen lassen.

Analog zu den „Feierlichkeiten“ in der BRD (2015), anläßlich des 70. Jahrestages der Befreiung Europas vom Hitler-Faschismus, hauptsächlich durch die Rote Armee, findet nicht nur der sieg- und verlustreiche Kampf der Soldaten und Offiziere der Roten Armee, sondern des Volkes der Sowjetunion keine Beachtung. Weit über 20 Millionen Opfer dieses Volkes sind einer Erwähnung, geschweige denn einer historisch korrekten Darstellung wert.

Über Vergewaltigungen und andere Straftaten von Angehörigen der Roten Armee wird kontinuierlich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, gesprochen, berichtet.

Vergeblich sucht man indes analoge Darstellungen des Handels von Angehörigen der faschistischen Wehrmacht, der SS und der Gestapo gegenüber polnischen Bürgern bei der Vertreibung aus deren Häusern und ihrer anschließenden Deportation in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit nach Nazi-Deutschland sowie gegenüber sowjetischen Juden nach dem Überfall auf die UdSSR. Hier machten sich die deutschen Okkupanten nicht einmal die Mühe der Deportation oder der Verschleppung zur Zwangsarbeit, sondern ermordeten sie an Ort und Stelle, um sie anschließend in Massengräbern zu verscharren. Diese beiden Nationen stehen hier stellvertretend für das millionenfache, willkürliche Morden der deutschen Faschisten in anderen Ländern und das unvorstellbare Leid, das sie über die Welt brachten.

Jeder geschichtlich interessierte, kritisch hinterfragende und denkende Mensch, der sich – gestützt auf historisches Material unterschiedlichster Quellen – mit Ursachen, Beginn, Verlauf und Beendigung dieses Krieges auseinandersetzt, weiß längst, daß Graf von Stauffenberg und sein Gefolge nicht von Beginn an am Widerstand beteiligt waren. Durch wen der Mord an solchen Widerstandskämpfern wie Ernst Thälmann, Hans Beimler, Arthur Becker, die Geschwister Scholl, Harnack, Schulze-Boysen u. a. veranlaßt wurde, ist bekannt. Ebenso auch die Tatsache, daß die Errichtung der Zweiten Front durch die Landung der Westalliierten in der Normandie im Juni 1944 – fünf Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen und drei Jahre nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion – nicht etwa deshalb erfolgte, um die UdSSR in ihrem heldenhaften Kampf zu unterstützen, sondern weil die Regierungen der USA und Großbritanniens ihre Einflußsphären auf dem europäischen Kontinent schwinden sahen. Der Aufbau eines friedlichen Europas, zumal teilweise unter sozialistischem Vorzeichen, mußte und sollte unter allen Umständen verhindert werden.

Der Zweite Weltkrieg, in dem sich der erste industrialisierte Massenmord in der bisherigen Menschheitsgeschichte ereignete, gehört zur unsäglichen Chronik der Bundesrepublik Deutschland als der selbsterklärten Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches. Einer Geschichte, die in der BRD weder Aufarbeitung noch Bewältigung erfuhr, sondern in gewisser Weise ihre Fortsetzung durch die Übernahme führender Kräfte aus Militär, Politik, Justiz und Wirtschaft in höchste Ämter fand.

Zur Ehre und zum Gedenken an alle Opfer dieses barbarischen Krieges haben wir später Geborene die Pflicht, zur wahrheitsgetreuen Darstellung der Ursachen und Folgendes Zweiten Weltkriegs beizutragen.

Solange in dieser Hinsicht keine ehrliche und respektvolle Aufarbeitung wie in der DDR erfolgt, „bleibt der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch“ (Bertolt Brecht). Ich denke an die ungehinderte Entwicklung des Revanchismus (Wehrsportgruppen, Landsmannschaften etc.) und denke an heutige Sturmabteilungen wie Pegida und AfD, sehe die Beteiligung der BRD an gleich mehreren Kriegen auf unserer Erde und den Umgang mit den Flüchtlingsströme sowie die jahrzehntelange Ausbeutung anderer Länder durch deutsche Konzerne und das von uns auf deren Kosten geführte Leben.

Historisch falsch ist überdies, wenn in den Medien – auch bei Ihnen – schlechthin von „Deutschland“ gesprochen und damit suggeriert wird, als seien Themen wie der Holocaust und der Umgang mit dem Faschismus in ganz Deutschland (das es 40 Jahre lang nicht gab) einheitlich behandelt worden.

Die dahinter verborgene Absicht ist offensichtlich. An dem zielgerichteten Vergessen der Existenz zweier deutscher Staaten in der Zeit von 1945 bis 1989 wird in der BRD seit der Annexion der DDR mit allen Mitteln gearbeitet. Sowohl die Medien – überwiegend Sprachrohre der politisch Herrschenden – als auch „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ schämen sich keiner Lüge, keiner Diffamierung, um den territorial kleineren, aber humanistisch, sozial und solidarisch weitaus größeren Staat DDR zu diskreditieren.