RotFuchs 226 – November 2016

Elemente des „linken Antikommunismus“

Wolf-Dieter Gudopp

Die Überlegungen zum Phänomen eines „linken Antikommunismus“, die sich jedem Marxisten aufdrängen müssen, der den antimonopolistischen und sozialistischen Kampf der vergangenen Monate und Jahre in Westberlin engagiert und aktiv verfolgt hat, verstehen sich als Appell zum Auf- und Ausbau der antiimperialistischen Aktionseinheit. Deren Verwirklichung erfordert eine permanente theoretische Überprüfung und Klärung der divergierenden Konzeptionen der gegenwärtigen und potentiellen Bündnispartner – Auseinandersetzungen, die dazu beitragen, intellektuelle und emotionale Hindernisse und Vorbehalte, die der Entwicklung und Festigung der Aktionseinheit im Wege stehen, abzubauen und zu beseitigen. Eine schlechte Einheit nämlich ist die, die durch das bloße Eliminieren der Kontroverspunkte zustande kommt: Sie läßt über die reale Situation im unklaren und kann, gerade weil sie statisch ist und den Prozeßcharakter der Einheit übersieht, nicht von stabiler Dauer sein.

Titelseite der ersten „Konsequent“-Ausgabe, Herausgeber: SEW Zehlendorf

Es sind also Fragen aufzuwerfen und Kriterien zur Diskussion zu stellen, die einerseits durch ihre Formulierung als gestellte Fragen ein Problembewußtsein wecken und wachhalten, andererseits aber auch mit aller von der – gemeinsamen – Sache her gebotenen Unerbittlichkeit Grenzen markieren, die von einem wirklichen Antifaschisten und Sozialisten nicht überschritten werden dürfen.

Über die Existenz und das Wesen des „linken Antikommunismus“ besteht weitgehend Unklarheit. In der politischen Diskussion kann etwa auf den Vorwurf des Antikommunismus entgegnet werden: „Ich kann kein Antikommunist sein, ich bin doch selbst Kommunist.“ Zunächst bedarf also der Begriff des „linken Antikommunismus“ einer Erörterung.

Wie sich ungebrochene bürgerliche Ideologie von bürgerlicher Ideologie unterscheidet, die auch – beeinflußt durch die Macht von sozialer Herkunft, Tradition und gesellschaftlichem Druck – in manchen sozialistischen Theorien noch mehr oder weniger unterschwellig lebendig ist, so unterscheidet sich herrschende antikommunistische Massenhysterie von „linkem Antikommunismus“. Der Antikommunismus, als das zentrale und umfassende, von der Bourgeoisie als Instrument ihrer Herrschaft benutzte Vorurteil, setzt sich in der Form des „linken Antikommunismus“ innerhalb antiimperialistischen und sozialistischen Gedankenguts fort und hat hier die Funktion eines imperialistischen Stützpunktes „hinter den Linien“. Seinen sozialen Ort und seine soziale Basis hat der „linke Antikommunismus“ vor allem in Teilen der linken Intelligenz und der Studentenschaft, die sich bekanntlich zum überwiegenden Teil aus dem Kleinbürgertum rekrutiert. Wieweit der „linke Antikommunismus“ Denken und Handeln der „Linken“ bestimmt, ob er nur als Relikt vorkommt oder ob er strukturbestimmend ist, zeigt an, auf welcher Seite des Klassenkampfes eine Gruppe oder Person letztlich steht, zumindest wohin sie tendiert.

Drei mögliche Mißverständnisse müssen abgewehrt werden: Erstens geht es dieser Untersuchung des „linken Antikommunismus“ nicht um eine Klassenanalyse etwa der Intelligenz. Wenn also von Bürgerlichkeit die Rede sein wird, so sagt dies nichts über die objektive Klassenzugehörigkeit aus.

Zum anderen darf der „linke Antikommunismus“ nie mit dem Antikommunismus schlechthin gleichgesetzt werden; der „linke Antikommunismus“ hat Kräfte der eigenen Aufhebung in sich und unterscheidet sich in substantiellen Strukturen vom gewöhnlichen Antikommunismus, zum Beispiel ist er, anders als jener, nicht generell manipulierbar. Und drittens ist Bürgerlichkeit nicht notwendig mit Antikommunismus identisch.

Wie jeder Antikommunismus, so entspringt auch das Syndrom des „linken Antikommunismus“ einer irrationalen Angst und Unsicherheit. Auch der „linke Antikommunist“ hat Angst vor qualitativer Veränderung, vor dem Sozialismus; er fürchtet sich vor dem Verlust von Traditionen und Privilegien, die für ihn eine Stärkung des Selbstbewußtseins bedeuten. Auch er will nicht sehen, daß dieser befürchtete Verlust nicht das Werk des Sozialismus ist, sondern objektive Ursachen hat, die gleichen nämlich, die auch die Arbeiterbewegung und den Sozialismus hervorgerufen haben. Obwohl er subjektiv kein Bürger mehr sein kann, hat er Angst, mit seiner Klasse radikal zu brechen. Diese Angst gibt sich Ausdrucksformen und schafft sich Mythen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Die Angst äußert sich als Realitätsflucht, präziser: als Flucht vor der Geschichte.

Aus dem Dilemma des „linken Antikommunisten“, nicht mehr Bürger sein zu können und sich zugleich vor dem Sieg der Arbeiterklasse zu fürchten, resultiert der Widerspruch in seinem politischen Verhalten: Er agiert verbal und auch praktisch für den Sozialismus, richtet seine Strategie aber geschickt so ein, daß er beruhigt sein kann: auf diese Weise wird er nicht realisiert werden. Er tut, möchte man manchmal meinen, alles, was dazu geeignet ist, den Erfolg zu verhindern. Das durch diese Haltung erzeugte schlechte Gewissen wiederum treibt ihn weiter zu linker und „linksradikaler“ Phrasenhaftigkeit, verbal und praktisch. Der linke, der „linksradikale Antikommunist“ manövriert sich in eine ihm sicherlich nicht willkommene, aber verräterische Gemeinschaft: Das Ziel ist nichts, Bewegung ist alles!

Es ist nur folgerichtig und entspricht der inneren Logik des „linken Antikommunismus“, daß er einen guten Teil seiner Energie dazu aufwendet, diejenigen Instrumente der Arbeiterklasse zu attackieren, mit denen sie Geschichte macht und die den Sieg und den Erfolg des Sozialismus allererst verbürgen: die kommunistischen Parteien und die sozialistischen Staaten. Nicht immer allerdings geschieht es mit solcher Eindeutigkeit wie da, wo zum Sturm aufs Establishment aller Parteien und aller Staaten geblasen wird, ohne Rücksicht darauf, wo Arbeiterinteresse und die Herrschaft der Arbeiterklasse etabliert sind und wo Bourgeoisinteresse und die Diktatur der Bourgeoisie. Die – in diesem Fall klar ausgesprochene – Frontstellung gegen Partei und Staat, das heißt gegen den Sieg der Arbeiterklasse, ist die Essenz, die alle anderen Erscheinungen des „linken Antikommunismus“ potentiell schon in sich enthält und beherrscht – von der Polemik gegen den realisierten Sozialismus der DDR über die offensive Ablehnung der Aktionseinheit mit den Kommunisten bis hin zu solchen Symptomen, daß „revolutionäre“ Studenten, die ins sozialistische Kuba fahren, nicht einsehen, daß sie dort arbeiten sollen, oder daß ein SDS-Mitglied gesprächsweise erklärt, wenn in Westberlin die Revolution siegt, setze er sich ins nächste (bzw. letzte) Flugzeug und fliege nach Westdeutschland.

Beim Suchen und Finden scheinrationaler Argumente und Ausflüchte zur Rechtfertigung solchen für „Sozialisten“ merkwürdigen Verhaltens sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Besonderer Beliebtheit beim Zurechtlegen eines Alibis erfreut sich die Methode, die Kommunisten mit sämtlichen vermeintlichen oder tatsächlichen Sünden der kommunistischen Weltbewegung zu konfrontieren. Zum Schluß kommt heraus, daß es allein die Schuld der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Staaten ist, wenn die Weltrevolution noch nicht gesiegt hat, und unser „Revolutionär“ ist glänzend bestätigt.

Auch die verbreitete China-Begeisterung, eine Begeisterung für einen sozialistischen Staat also, kann nicht als Gegenbeweis gelten. Die Westberliner Form des Maoismus ist in der Hauptsache auf dem Humus der antiautoritären Bewegung gediehen, sie fand ihre Verbreitung innerhalb des antiautoritären Potentials und darf zum guten Teil als deren Symptom genommen werden. Die (eher folkloristische) China-Orientierung hat mit dem wirklichen, historischen China und dessen Problemen nichts zu tun; Ereignisse und Theorien wie die der „Großen proletarischen Kulturrevolution“ werden unverstanden und ahistorisch auf die Westberliner Situation übertragen, was eben für die Geschichtslosigkeit bzw. -feindlichkeit der betreffenden Gruppen spricht. Und andererseits bietet das entfernte China – obwohl es in dieser Funktion prinzipiell auswechselbar ist – eine besonders günstige Gelegenheit, den Antikommunismus im Gewande des Antisowjetismus auszuleben und dennoch scheinbar und um so demonstrativer unter der Fahne des Kommunismus zu marschieren.

Wenn hier Antikommunismus als Antisowjetismus bezeichnet wird, so geschieht dies nicht aus einer ungeschichtlichen Mythisierung der Sowjetunion heraus, sondern aus der rationalen und historischen Einsicht, daß die ökonomische, militärische, wissenschaftliche und politische Stärke der Sowjetunion (wie selbstverständlich der anderen sozialistischen Staaten und für das deutsche Proletariat in besonderem Maße: der DDR) für den Sieg des Proletariats aller Länder von unüberschätzbarer, entscheidender Bedeutung ist. Wer das negiert, negiert den Kampf der Arbeiterklasse auch in Westberlin und landet, ehe er merkt, was mit ihm geschieht, bei einer linken Variante des gängigen antikommunistischen Stereotyps: rot = braun: „Amis raus aus Vietnam, Russen raus aus Prag!“

Der Parole rot = braun scheint auch die antiautoritäre Organisationsfeindlichkeit zu folgen: Wer dächte dabei nicht an den demagogischen Standardsatz „freiheitlicher“ Politiker: „Wir sind gegen jede Form des Totalitarismus“! Im Antiautoritarismus findet der „linke Antikommunismus“ seine deutlichste und durchsichtigste Ausprägung: Dem unverhohlenen Kampf gegen die Organisationen der leninistischen Partei und der Diktatur des Proletariats entspringt ein – zwar uneingestandenes, nichtsdestoweniger aber auffälliges – akademisches Elitedenken, auf der höheren Ebene quasi der Antibürgerlichkeit. Die individuelle „Freiheit“ erlebt eine Auferstehung, von der kein Prophet der Bourgeoisie sich etwas hätte träumen lassen; jeder einzelne wird tendenziell zu seinem eigenen Parteivorsitzenden, wodurch er sich seine persönlichen, intellektuellen Vorbehalte gegen die Partei und seine schöne Seele bewahren kann; überhaupt wird Ästhetik in diesem politischen Umkreis häufig für Politik ausgegeben.

An die Stelle der Geschichte der Arbeiterbewegung treten Geschichten von Kommunen. Die Arbeiterklasse wird als Träger der sozialistischen Revolution in Frage gestellt und durch die Studenten, soziale „Randgruppen“ und Subkultur ersetzt. Nachdem man die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft wiederentdeckt hat, überträgt man die eigenen Kampferfahrungen von Schule und Universität auf den Kampf der Arbeiterschaft und predigt ihr vom Katheder studentischer Erkenntnisse die wahre revolutionäre Strategie.

Das alle Phänomene des „linken Antikommunismus“ durchziehende Fluchtmotiv zeigt sich auch in der zeitweilig bei der APO grassierenden Proletarophilie und dem Philokommunismus, dem „Exotismus nach innen“. Der Umschlag von irrationaler Ablehnung in irrationale, ästhetisierende Schwärmerei ist ein vordergründig besonders unangreifbares Mittel, sich vor der Strenge der Theorie zu drücken und an der praktischen Notwendigkeit vorbeizumogeln (wie der Philosemitismus eine ausweichende Reaktion auf den Antisemitismus ist). Der mythenbildende Ästhet pflastert sich so seinen Fluchtweg vor der wirklichen Geschichte, vor dieser Arbeiterklasse, vor diesem Staat, vor dieser Partei.

Auch das scheinbare Gegenteil des Sich-Einkapselns, der mit letzterem häufig sogar unmittelbar gekoppelte massive Opportunismus bei konkreten „Massenkontakten“ entspringt der Unsicherheit unserer Sozialisten ohne Klassenposition. Jeder, der schon Diskussionsgruppen am Ku’damm zugehört hat, wird sich erinnern, wie APO-Studenten neugierigen oder schimpfenden Passanten immer wieder versichern: Aber den Sozialismus in der DDR lehnen wir ja gerade ab, und mit Ulbricht wollen wir nichts zu tun haben! Man konzidiert dem Publikum also – als „Bürger“ – zunächst dessen antikommunistischen Haß, der konkret z. B. in der Beschimpfung der DDR faßbar wird, man bestätigt es in seinen Vorurteilen, um auf dieser Basis (der übersprungenen Hürde antikommunistischer Berührungsangst) als „Linker“ vielleicht doch Gehör zu finden. Konsequenterweise muß in diesen Diskussionen irgendein drittes Gesellschaftsmodell, ein „humanistischer“ Sozialismus vorgestellt werden, der, was in solchen Situationen unmittelbar sichtbar wird, vom Antikommunismus provoziert und genährt wird. Diese Spirale setzt sich fort, wenn die Aggressionen, denen der „linke Antikommunist“ in der Bevölkerung begegnet, bei ihm, der eben doch – als Linker! – Verbotenes tut, ein Schuldbewußtsein produzieren; er leitet die Aggressionen zu seiner eigenen Entlastung weiter auf die wirklichen Kommunisten (DDR, SED, SEW).

Wer solche Wege eines bürgerlichen Sozialismus einschlägt, wer auf die Straße geht, um den Westberlinern klarzumachen, daß die Sowjetunion ein imperialistischer Staat sei und daß sich die ČSSR befreien müsse, und es ablehnt, am 1. Mai zusammen mit der kommunistischen Partei zu demonstrieren, der möge zusehen, wie er sich aus den Armen des Senats wieder befreien kann. Vorausgesetzt immer, daß er dies überhaupt will.

Die oben genannten Phänomene und Motive des manifesten linksantikommunistischen Opportunismus bereichern die vielfältige Angst, die jedem Antikommunismus zugrundeliegt, um einen weiteren Aspekt: Der „linke Antikommunist“, als Linker selbst Opfer des Antikommunismus, wendet sich an die Unterdrücker und versucht sich zu retten, indem er sie mittels Bestechung in Form von Zugeständnissen um Verschonung bittet.

Doch hat sich solcher Opportunismus noch nie ausgezahlt und wird sich nie auszahlen. Eine mögliche zeitweilige und partielle Honorierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bourgeoisie im geeigneten Moment keinen Unterschied mehr machen wird zwischen ihren linken Helfern, deren sie sich, wenn es ihr günstig erscheint, gegen die Kommunisten bedient, und den Kommunisten selbst. Die antiimperialistische Aktionseinheit ist – trotz aller Meinungsverschiedenheiten – für uns alle lebensnotwendig. Die antikommunistischen Linken sind aber nicht nur zugleich Opfer und Instrument des Antikommunismus: Niemand wird leugnen, daß die Aktivität auch der Teile der APO, auf die Charakteristiken des „linken Antikommunismus“ zutreffen, als ein wesentlicher Faktor dazu beigetragen hat, daß der grobe Antikommunismus bereits spürbar abgebaut werden konnte. Was wiederum seine reale Bedingung darin hat, daß der kleinbürgerliche Massen-Antikommunismus alle Linken, alle Demokraten und Sozialisten mit den Kommunisten gleichsetzt.

Der Antikommunismus und – in seinen Grenzen – auch der „linke Antikommunismus“ sind Herrschafts- und Disziplinierungsmittel der Bourgeoisie; sie dienen der Ablenkung von der wirklichen Klassenfront. Aufklärung über Wesen und Funktion des Antikommunismus bedeutet also Kampf gegen die Herrschaft der Bourgeoisie. Für die Bekämpfung des „linken Antikommunismus“ noch wichtiger ist dessen Widerlegung in der Praxis des gemeinsamen Kampfes. Am effektivsten aber wird der Antikommunismus in all seinen Spielarten durch das Erstarken der antiimperialistischen, sozialistischen Weltbewegung bekämpft, die ihm und der ihn nährenden Angst den Boden entzieht.

Aus „Konsequent“, Beiträge zur marxistisch-leninistischen Theorie und Praxis, Hrsg. SEW Zehlendorf, Heft 1, Dezember 1969

Anmerkung der Redaktion:

Die in unterschiedlichem Maß vom „linken“ Antikommunismus (vor allem „Anti-DDR-Ismus“ und „Anti-Sowjetunion-Ismus“) geprägten Vertreter der APO (außerparlamentarische Opposition), mit denen sich der Autor in seinem Beitrag befaßte, haben in den seitdem vergangenen fünf Jahrzehnten die unterschiedlichsten Lebenswege zurückgelegt: Einige wenige haben nach Überwindung ihrer antikommunistischen Vorbehalte zu uns gefunden, viele haben ihr politisches Engagement resigniert aufgegeben, und mancher ist wieder in der Klasse gelandet, aus der er doch angeblich radikal und für immer ausgebrochen war – man denke beispielsweise an den früheren „Straßenkämpfer“ Joschka Fischer, der es schließlich bis zu Schröders Kriegs-Außenminister brachte.