RotFuchs 219 – April 2016

Elly Winter über ihren Vater Wilhelm Pieck

Elly Winter

Im Winter 1897 lernte meine Mutter in einem großen Bremer Tanzsaal meinen Vater kennen. Er war ein sehr guter Tänzer, besonders beim Walzer linksherum. Die ersten paar Male wußte Mutter noch nicht, wer der gute Tänzer sei. Er war sehr gut angezogen, roch aber so komisch. Dann erzählte er ihr, daß er Tischler sei und der Geruch von Beize komme. Er berichtete Mutter auch von seiner politischen Einstellung, über die sie ihre Eltern – beide Tabakarbeiter – in Kenntnis setzte. Es gab viel Krach, denn die Eltern wollten nicht, daß ihre Tochter mit einem „Roten“ ging. Als aber ein Kind unterwegs war, durfte sie ihren Wilhelm am 28. Mai 1898 unter der Bedingung heiraten, daß eine kirchliche Trauung stattfinde. Am Hochzeitstag wartete Christine ungeduldig auf ihren Mann, um zur Kirche zu fahren. Der aber trug erst noch Flugblätter aus und kam in allerletzter Minute.

Wilhelm Pieck und Elly Winter im Sommerurlaub 1949 auf Rügen

1914 zogen die Eltern in eine Dreizimmerwohnung in Berlin-Steglitz. Jetzt hatte Vater seine eigene Studierstube mit vielen Regalen voller Bücher. Im Mai 1915 wurde er bei der großen Frauendemonstration vor dem Reichstag verhaftet und bis Oktober in „Schutzhaft“ gehalten. Mein Bruder Arthur und ich, aber auch die damals neunjährige Lore, begleiteten Mutter, wenn sie ins Gefängnis ging, um Vater Wäsche oder Lebensmittel zu bringen. Oft hörte ich, daß die Gefängnisbeamten zu ihr sagten: „Was, zu dem roten Pieck wollen Sie? Lassen Sie sich doch bloß von dem scheiden, der bringt Ihnen doch nur Unglück!“ Aber Mutter setzte ein stolzes Gesicht auf und erwiderte: „Das ist der Vater meiner Kinder und mein Mann, ich verbitte mir Ihre Frechheiten.“

Dann mußte Vater zum Militär. Doch 1917 weigerte er sich, an die Front zurückzukehren. Von Eilenburg flüchtete er nach Berlin. Die Mutter traf sich mit ihm und erzählte uns, daß Vater mit Arthur nach Holland fahre, da man auch meinen Bruder einziehen wollte. Illegal gingen beide 1918 über die Grenze und arbeiteten dann in Amsterdam. Vater war in der Gehäusewerkstatt einer Uhrenfabrik als Tischler beschäftigt, wirkte überdies aber ehrenamtlich in der Redaktion eines linken Blattes.

Es kam das Jahr 1919 mit den Januarkämpfen. Jeden Morgen um sechs erschienen Weißgardisten bei uns zur Haussuchung, trieben uns aus den Betten und durchwühlten alles. Mutter zeigte ihnen immer irgendeine Ansichtskarte, die Vater gerade aus Leipzig, Dresden oder Hamburg geschrieben habe.

Als es Vater gelungen war, am 15. Januar 1919 aus dem Berliner Eden-Hotel heil herauszukommen, wohin man ihn zusammen mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gebracht hatte, mußte er doppelt vorsichtig sein und kam jetzt fast gar nicht mehr nach Hause.

Von 1920 bis 1932 arbeitete ich in Bremen, zuerst bei einer bürgerlichen Firma, später im Bezirksbüro der KPD. In diesen Jahren sah ich meinen Vater nur selten. Als er Ende 1920 auf einer öffentlichen Versammlung in Bremen sprach, wurde ich von meiner Firma entlassen. Man hatte festgestellt, daß „dieser Pieck“ mein Vater war.

Dann kamen die schweren Jahre der Nazizeit. Am 4. März 1933, einen Tag vor der Reichstagswahl, verließen wir die Steglitzer Wohnung und zogen in eine Kochstube. Meine Geschwister befanden sich schon seit 1932 in der Sowjetunion. Anfang Mai 1933 war die Lage für Vater so kritisch geworden, daß das ZK der KPD beschloß, ihn nach Paris zu schicken. Er hatte Mutter und mich zu einem Treff außerhalb Berlins bestellt, um Abschied zu nehmen. Wir standen an der verabredeten Stelle, als ein älterer Mann mit langem Bart auf uns zukam. Mutter hatte ihn sofort an den Augen erkannt, ich erst an der Stimme.

Im September 1933 trafen wir Vater in Paris, als auch wir auf Beschluß der Partei emigrieren mußten. Dann fuhren Mutter, mein Mann und ich nach Moskau. In den folgenden Jahren war Vater wiederholt dort zu Tagungen des Exekutivkomitees der Komintern, dem er angehörte. Er nahm auch am VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Juli/August 1935 teil.

Im November 1936 erkrankte unsere Mutter das dritte Mal an Lungenentzündung und starb am 1. Dezember.

Im Februar 1939 kam unser Vater für längere Zeit nach Moskau. Eines Tages – es war der 22. Juni 1941 – waren wir alle in unserem Landhaus an der Peripherie der Stadt. Plötzlich hörten wir, wie Vater früh um sechs die Treppe herunterkam. Er trat in unser Schlafzimmer und sagte: „Kinder, steht auf, im Radio wurde durchgegeben, daß Krieg ist. Hitler hat die Sowjetunion überfallen, aber das wird sein Ende sein.“

Es folgten schwere Wochen. Die sowjetischen Armeen mußten sich zurückziehen, und am 15. Oktober wurden wir alle aus Moskau evakuiert. Die Hitler-Armeen kamen aber nicht an die Hauptstadt der UdSSR heran. Im März 1942 konnten wir dorthin zurückkehren.

Bis zum Kriegsende hielt Vater 37 Rundfunkansprachen. Er forderte die Soldaten Hitlers dazu auf, den weiteren Kriegsdienst zu verweigern. Auch die Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland war diesem Anliegen gewidmet.

1945 kehrten wir nach Deutschland zurück. Lebhaft erinnere ich mich an die erste öffentliche Versammlung der KPD am 19. Juli 1945 in Berlin-Neukölln. Es sprachen mein Vater und Otto Grotewohl. Am Schluß der Veranstaltung wurde die Internationale gesungen. Vielen alten Genossen standen die Tränen in den Augen, und die Kehle war ihnen wie zugeschnürt. Da stand ihr „Willem“ mit schlohweißem Haar wieder vor ihnen, etwas älter und auch dicker geworden, aber mit den blitzenden Augen und der starken, so bekannten Stimme. Er sprach zu ihnen von der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien, vom Wiederaufbau und dem Weg in eine bessere Zukunft. Nach ihm bekundete Otto Grotewohl die Bereitschaft der SPD, sich mit den Kommunisten zu vereinigen, um ein für allemal den Streit zwischen beiden Parteien zu Grabe zu tragen. Es war eine erhebende, Mut machende Kundgebung.

Im August bekamen wir eine feste Wohnung. Da mein Mann von den Faschisten ermordet worden war, blieb ich nun ganz bei Vater. Im Januar 1946 wurde sein 70. Geburtstag im Admiralspalast festlich begangen, und am Abend fand eine kleine Feier im Schloß Niederschönhausen statt. Es sollte vier Jahre später sein Amtssitz werden. Fast elf Jahre hat er dort als Präsident des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates in der deutschen Geschichte gearbeitet. Bis zum letzten Atemzug blieb er das, was er sein Leben lang gewesen war: ein Arbeiter, ein Kämpfer für die Sache der einfachen Menschen in aller Welt, einer der treuesten Söhne seines Volkes.

Diesen leicht redigierten Artikel veröffentlichte Ulrich Uhlmann in Absprache mit Elly Winter am 6. September 1956 im „Neuen Cottbuser“.