RotFuchs 227 – Dezember 2016

Am 1. Dezember 1946 wurde die Deutsche Grenzpolizei gebildet

Entscheidungen an der Grenze

Günter Freyer

Anfang Juni 1952, die mündlichen Abiturprüfungen standen unmittelbar bevor, hatte ich mich noch nicht für einen Studiengang entschieden. Ich schwankte zwischen Journalistik, Jura und Pädagogik mit den Fächern Geschichte und Deutsch. Da rief mich die SED-Kreisleitung zu einem Gespräch. Die Genossen machten es kurz: Am 26. Mai hatte der Ministerrat der DDR Maßnahmen zur verstärkten Sicherung der Demarkationslinie zu den westlichen Besatzungszonen beschlossen, woraus sich auch die Notwenigkeit zur Verstärkung der Grenzpolizei ergab. Ob ich bereit sei, mein Studium vorerst aufzugeben und drei Jahre an der Grenze zu dienen. Es wäre wichtig, daß junge Genossen – ich war seit dem 24. März Mitglied der Partei – mit gutem Beispiel vorangingen, denn der Dienst sei freiwillig.

Man mußte mich nicht überzeugen, hatte ich doch die politische Entwicklung aufmerksam verfolgt. Seit der separaten Währungsreform 1948 betrieben reaktionäre Politiker in Bonn mit Adenauer an der Spitze die Spaltung Deutschlands.

So fand ich mich am 7. Juli mit vielen etwa gleichaltrigen jungen Männern in der Zentralschule der Deutschen Grenzpolizei in Sondershausen ein. Von der hohen Anzahl Freiwilliger offensichtlich überrascht, gab es zwar Unterkünfte, aber keine Uniformen. Dennoch begann am nächsten Tag die Ausbildung, viele von uns bestritten sie in Sommerkleidung. Neben ausgiebigen Sportstunden gab es Vorträge und Instruktionen über die Situation an der Demarkationslinie, über das Verhalten im Grenzdienst, über Gesetze und Vorschriften; dazu Unterrichtung am sowjetischen Karabiner 44. Nach einer Woche, nun eingekleidet in die blaue Polizeiuniform mit einem grünen Schild und einem silbernen „G“ auf dem linken Ärmel, schloß sich die praktische Geländeausbildung an. Hier übten wir, wie man sich im Gelände bewegt, wie man sich tarnt, wie Grenzverletzer gestellt und festgenommen werden.

Völlig überraschend erhielten wir am späten Abend des 31. Juli den Befehl zum Abmarsch an die Grenze. Grund: Unsere Unterkünfte wurden für die nachkommenden Freiwilligen gebraucht. So erreichten wir am nächsten Morgen einen winzigen Ort im südlichen Thüringen an der D-Linie, wie wir damals sagten, zur US-amerikanischen Besatzungszone. Haubinda hieß das Dorf und war Standort einer Grenzkomman­dantur. Hier sollte die Ausbildung unter Leitung des Stabschefs, eines blutjungen Unterkommissars, fortgesetzt werden.

Sie blieb mir erspart, denn schon am übernächsten Tag beförderte mich ein Pferdefuhrwerk zum etwa zehn Kilometer entfernten Grenzkommando Mendhausen. Ich sollte die dort verbliebenen drei Parteimitglieder in der politischen Arbeit unterstützen, denn der Politstellvertreter sei schwer erkrankt und würde für viele Monate ausfallen. Vor allem sollte ich die ab September einzuführende regelmäßige politische Schulung meiner Kameraden leiten.

Was ich in Mendhausen antraf, entsprach in keiner Weise meiner Vorstellung von einer Volkspolizei-Dienststelle. Von einem dafür vorgesehenen Gebäude keine Spur. In einem halben Bauernhaus wurden zwei untere Räume als Wache und Waffenkammer genutzt. Darüber befand sich das Dienstzimmer des Kommando­leiters, im Nebengelaß schlief er. Auf der anderen Straßenseite konnte ein ganzes Haus von den Grenzern genutzt werden; dort waren Küche, ein kleiner Speiseraum sowie ein Freizeit- und Kulturraum eingerichtet worden, darüber Unterkünfte für jeweils zwei bis drei Mann.

Zur Ausrüstung zählten neben alten Karabinern K 98 einige Pistolen, ein Krad, zwei Fahrräder, zwei Pferde (zur Bearbeitung des 10-m-Kontrollstreifens) sowie in der Wache ein altes Feldtelefon. Mit dem Krad fuhren Meister Kirschnick, wenn er nach Haubinda befohlen wurde, und der Furier, wenn er mit einem großen Rucksack Lebensmittel in Römhild einkaufte.

Am nächsten Tag begleitete ich den Kommandoleiter zu einem Kontrollgang an die Grenzlinie. Er erklärte mir die Streifenwege und wo die günstigsten Beobachtungs­posten sind, wobei er darauf hinwies, daß auch Beobachter der Sowjetarmee in unserem Abschnitt eingesetzt sind. Natürlich informierte er mich über Aktivitäten westlich der Grenze sowohl des Wachpersonals als auch von Zivilisten. Provoka­tionen der verschiedensten Art fänden häufig statt, deshalb sei Wachsamkeit dringend geboten. Dabei verwies er darauf, daß innerhalb von nur drei Jahren sieben Grenzer von westzonalen Terroristen und US-amerikanischen Besatzern ermordet worden sind.

Dann begann mein Grenzeralltag. Verlief er normal, waren das jeweils acht Stunden in drei Schichten. Anfangs wurden mir erfahrene Postenführer zugeteilt: Oberwachtmeister Werner Herrmann sowie die Wachtmeister Heinz Roßberg und Werner Tittel, Arbeiterjungs aus Sachsen.

Auch von der Gegenseite wurde die Grenze bewacht. Jeden Tag hielten sich dort Angehörige des Zollgrenzdienstes und der bayerischen Grenzpolizei auf, Männer im fortgeschrittenen Alter, von denen man annehmen konnte, daß sie bereits anderen Machthabern treu gedient hatten. Sie verhielten sich zurückhaltend, beobachteten unser Gebiet, machten Notizen. Anders der Bundesgrenzschutz. Die militärisch ausgebildete, ausgerüstete und bewaffnete Truppe erschien meist in Zugstärke und trat entsprechend provokant und aggressiv auf. Dummdreiste Bemerkungen, Beschimpfungen und Drohungen kamen über die Grenze, sobald sie einen unserer Posten sahen. Manche dieser uniformierten Rowdys richteten auch ihre Waffen auf uns. Und dann tauchten auch noch die Ami-Besatzer auf. In ihren Jeeps fuhren sie mit ostwärts gerichteten MGs nicht nur die Grenzlinie entlang, sondern auch darüber auf unser Hoheitsgebiet. Wenn aber ein sowjetischer Posten auftauchte, verschwanden sie ganz schnell.

Der 7. Oktober 1952 brachte erste Maßnahmen zur Entwicklung der Deutschen Grenzpolizei zu einer Grenztruppe. Wir erhielten neue Uniformen, neue Waffen und militärische Dienstgrade. Vier Wochen später erhielten wir personelle Verstärkung, die wir mangels anderer Unterkünfte in den Saal der Dorfgaststätte einquartierten. Obwohl ich erst drei Monate Grenz-Erfahrung hatte, wurde ich als Postenführer eingesetzt, hatte nun an einem bestimmten Abschnitt für jeweils acht Stunden die Verantwortung für die Unantastbarkeit unserer Staatsgrenze. Außerdem war ich weiter für die politische Schulung meiner Genossen zuständig.

Bis zum Jahreswechsel 1952/53 reifte mein Entschluß, auf ein Hochschulstudium zu verzichten und statt dessen meine Perspektive in den Reihen der Deutschen Grenzpolizei zu sehen. Die bisher gemachten Erfahrungen, das Leben im Kollektiv, das kameradschaftliche Verhältnis zu den Vorgesetzten und nicht zuletzt die politische Entwicklung in beiden deutschen Staaten bestimmten meine berufliche Zukunft. Achtzehn Jahre habe ich den Dienst an der Staatsgrenze versehen, bis ich in eine andere Funktion in der NVA versetzt wurde. Ich konnte mich in diesen Jahren zum Militärjournalisten qualifizieren und ein Fernstudium der Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität absolvieren.

Hans Bauer:  Halt! Stehenbleiben!

Hans Bauer (Hrsg.):

Halt! Stehenbleiben!
Grenze und Grenzregime der DDR

edition ost, Berlin 2016, 272 Seiten
ISBN 978-3-360-01869-4

14,99 €