RotFuchs 216 – Januar 2016

Es kracht im Gebälk der EU

Klaus Steiniger

Zwischen Mai 1974 und August 1979 war ich ND-Korrespondent in Lissabon, also Chronist und Weggefährte des bisher weitreichendsten antikapitalistischen Befreiungsversuchs im Westen Europas: der portugiesischen Aprilrevolution. Während ihrer Vormarschetappe gab es durchaus Zeiten, in denen wir einen Sieg der sie tragenden Kräfte für möglich hielten. Doch die besonders aus der BRD und den USA finanzierte und gesteuerte Gegenrevolution schob dieser Entwicklung bald einen Riegel vor. Als sich herausstellte, daß das innere wie das internationale Kräfteverhältnis einen landesweiten Erfolg der bereits in ihre sozialistische Etappe hinüberwachsenden bürgerlich-demokratischen Revolution nicht begünstigte, beherrschte der damals Portugals kommunistische Massenpartei führende Stratege und Taktiker Álvaro Cunhal die Kunst des geordneten und die eigenen Kader schützenden Rückzugs.

Auf der anderen Seite der Barrikade stand damals Frank Carlucci. Er avancierte direkten Weges vom US-Botschafter im NATO-Mitbegründerstaat Portugal zur Nr. 2 der CIA-Geheimdienstzentrale in Langley.

Die erst nach Jahren erbitterten Ringens erreichte weitgehende Wiederherstellung der alten Macht- und Eigentumsverhältnisse in dem iberischen Staat war – neben der Niederwerfung der demokratischen Kräfte Griechenlands im Volksbefreiungskrieg gegen das Athener monarcho-faschistische Regime – einer der frühen Siege des Imperialismus nach dem 2. Weltkrieg. Da das Pilotprojekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gescheitert war und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) noch nicht hinreichend gegriffen hatte, zogen die beteiligten westeuropäischen Mächte nach Jahren des Ausprobierens aus ihrer Sicht entscheidende Lehren, um einer möglichen Wiederholung fundamentaler Umwälzungsversuche einen Riegel vorzuschieben. Die Konsequenz ihrer Überlegungen bestand in der später erfolgten Formierung der EU und der Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe zur Bewältigung von „Krisensituationen“ auf dem Kontinent.

Nach dem Untergang der UdSSR und der übrigen sozialistischen Staaten Europas – nicht zuletzt der DDR, was die territorial um ein Drittel erweiterte BRD zu einer europäischen Großmacht mit imperialen Ansprüchen werden ließ – kam es zu fundamentalen Verschiebungen des Kräfteverhältnisses in der Welt.

Zum neuen kontinentalen Machtzentrum Europas wurde die zwar in Brüssel angesiedelte, doch allein schon durch ihren weithin deutschsprachigen Mitarbeiterstab immer mehr von Berlin aus gesteuerte EU. In sie bezog man die vom Kapital zurückeroberten ost- und südosteuropäischen Staaten ein. Im Ergebnis dieser Entwicklungen war der deutsche Imperialismus dazu in der Lage, einen Teil der von ihm unter Hitler erfolglos angestrebten Kriegsziele mit nichtmilitärischen Mitteln doch noch zu erreichen. In Ungarn, Litauen, Lettland und Estland sowie 2015 auch in Polen gelangten faschistoide Kräfte ans Ruder. In Frankreich – der zweiten Schlüsselmacht des EU-Systems – vermag die vom Vater auf die Tochter übergegangene Faschistenpartei der Le Pens inzwischen sogar den Elysee-Palast anzuvisieren.

Triumphator-Mienen nach der Exekution der griechischen Souveränität: Euro-Gruppen­chef Dijsselbloem und sein Kumpan sind ebenso zufrieden …

Doch das noch bis vor kurzem äußerlich so kraftstrotzende EU-Europa, das mit dem Ans-Kreuz-Schlagen der Griechen einmal mehr seine Muskeln spielen ließ, steht jetzt vor einem Fiasko besonderer Art. Dieses hat zum erneuten Aufbrechen nur scheinbar taktisch gedeckelter Konflikte geführt: Die als „Flüchtlingskrise“ ausgegebene faktische Völkerwanderung machte kaum überbrückbare Interessengegensätze deutlich, wobei auch immer neue Krisengipfel und zur Schau gestellte Scheinlösungen keine Abhilfe geschaffen haben. Während in der BRD die heftige innenpolitische Fehde zwischen verschiedenen Flügeln der Regierungskoalition Angela Merkels weiterglimmt, bei der das Spitzenpersonal der rechtskonservativen CSU und der zu ihr tendierende Flügel der CDU die Bundeskanzlerin gerne loswerden würden, rieb man sich anderswo genüßlich die Hände. Vor allem in den USA, deren vermeintliche Eliten mit dem erpresserischen Freihandelsabkommen TTIP verlorenes Terrain zurückerobern wollen, nutzt man die derzeitige Bedrängnis der BRD-Konkurrenz nach Kräften aus.

… wie Europaparlamentspräsident Schulz (SPD) und Luxemburgs Großbanker Junckers als Vorsitzender der EU-Kommission.

Aus marxistischer Sicht ist die Flüchtlingskrise sowohl unter humanitären Aspekten als auch unter Gesichtspunkten ihrer Klassennatur zu analysieren. Nehmen wir Syrien, von wo das Gros der nach Europa Aufgebrochenen kommt, als Beispiel: Während der ärmere Teil der Kriegsflüchtlinge in Elendslagern auf jordanischem, libanesischem und türkischem Territorium zusammengepfercht vegetieren muß, gelingt vor allem Besserbetuchten aus der Bourgeoisie, den Mittelschichten und der Intelligenz der Exodus nach Europa. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der potenzierte Abzug hochqualifizierter Kader, aber auch sich dem Militärdienst in der syrischen Armee entziehender junger Männer nicht ohne Regisseure im Hintergrund erfolgt. Ohne Zweifel zielen die USA und mit ihnen verbündete Mächte in erster Linie auf eine maximale Schwächung und den Sturz des ihnen verhaßten, zumal auch noch pro-russischen „Assad-Regimes“. Die offensichtlich gut organisierte, schlagartig einsetzende und weiter anhaltende Massenflucht jüngerer Menschen mit hoher Bildung und möglichst prowestlicher Einstellung dürfte nicht vom Himmel gefallen sein. Die ihr Land Verlassenden strömen vor allem in die BRD, wo inzwischen Hunderttausende einheimische Fachkräfte fehlen. Ist es abwegig, sich an parallele Vorgänge ohne Kriegshintergrund zu erinnern? Ehemalige DDR-Bürger haben noch nicht vergessen, wie sich seinerzeit die systematische Abwerbung entsprechender Berufsgruppen aus volkseigenen Schlüsselbereichen ihres Landes vollzogen hat.

Doch die hier genannten Hintergründe der vermutlich gesteuerten Massenflucht bringen uns keinen Deut von einer internationalistischen und solidarischen Haltung gegenüber den Millionen Opfern der systematischen Zerstörung Libyens, Syriens, Iraks, Afghanistans und anderer zu Kriegsschauplätzen gewordener Länder sowie den Armutsflüchtlingen aus Afrika, Asien und Teilen Europas ab.

Als sich Lenin vor etwa 100 Jahren mit der schon damals aufgekommenen Idee „Vereinigter Staaten von Europa“ konfrontiert sah, vertrat er den Standpunkt, daß dieses Konstrukt entweder nicht zustande käme oder reaktionär sein würde. Der zweite Aspekt dieser Prognose hat sich inzwischen bewahrheitet. Wann und in welcher Weise die EU als derzeit gerade noch haltende Klammer für das Europa der Monopole auseinanderbrechen wird, bleibt abzuwarten.