RotFuchs 208 – Mai 2015

Über die konträren Vorstellungen der Deutschen zum 8. Mai 1945

Facetten einer Erinnerungsschlacht

Prof. Dr. Horst Schneider

In der Sowjetischen Besatzungszone, aus der später die DDR hervorging, war jeder 8. Mai seit 1946 als Tag der Befreiung ein Staatsfeiertag. Im Westen wurde das Gedenken als „verordneter Antifaschismus“ denunziert. In der BRD blieb das historische Datum des 8. Mai lange Zeit kaum beachtet. Von Regierungsseite wurde es weder geachtet noch gewürdigt. Das änderte sich erst mit der Ansprache Richard von Weizsäckers am Tag der Befreiung 1985, die in die Reihe der berühmtesten Reden der Weltgeschichte einging. Heutige Leser sollten bedenken, in welcher politischen Situation sie gehalten wurde. Damals stand Michail Gorbatschow an der Spitze der UdSSR. Wollte man ihm eine goldene Brücke bauen?

Als Helmut Kohl zehn Jahre später über den 8. Mai schwadronierte, verkündete er ganz andere Wahrheiten. Im Unterschied zu der staatsmännischen Rede Weizsäckers lautete Kohls Fazit, nach dem Mai 1945 sei „in Teilen Deutschlands und Europas die Hoffnung auf neues Recht und neue Freiheit sehr schnell bitter enttäuscht“ worden.

Der Kanzler bestimmte nicht nur die Richtlinien der Politik, er verordnete auch seine These, die DDR-Bürger hätten bis 1990 unter einer totalitären Diktatur gelebt.

Kohls Formel von der Gleichheit der Diktaturen steht übrigens auch in der sächsischen Landesverfassung.

Politiker des Freistaates, die Putin den St.-Georgs-Orden an die Brust hefteten, scheuten sich nicht, den Charakter des 8.Mai besonders grob zu verfälschen. Ministerpräsident Georg Milbradt hielt im Frühjahr 2005 drei entsprechend sprachgeregelte Reden. Am 25. April 2005 trat er in Torgau aus Anlaß des 60. Jahrestages der „Begegnung an der Elbe“ auf. Der Begriff Antihitlerkoalition und eine Würdigung der Befreierrolle der Sowjetunion fehlten, während er andererseits bemerkte, es habe noch einmal 44 Jahre gedauert, bis „Freiheit und Demokratie“ auch in Sachsen Einzug gehalten hätten. Seine Kernthese lautete: In Sachsen folgte der Nazidiktatur die Diktatur der DDR.

In seiner Landtagsrede am 8. Mai 2005 wickelte Milbradt den Antifaschismus der DDR noch krasser ab. Als er über Hitlers zwölfjährige Terrorherrschaft sprach, wählte er die Begriffe Nationalsozialismus und nationalsozialistisch, also jene verharmlosende Sprache, welche die Nazis zu Zwecken ihrer Tarnung erfunden hatten. Für die neuen Faschisten bevorzugte er den Begriff „Rechtsextremisten“. Heute spricht man von „Rechtspopulisten“.

Wenn Milbradt indes die Worte „Antifaschismus“ oder „antifaschistisch“ verwendete, dann tat er das nicht zur Würdigung des Kampfes der Hitlergegner von einst, sondern um den Antifaschismus der DDR zu diskreditieren. In seiner Landtagsrede vom 8. Mai 2005 behauptete er: „Der sogenannte Antifaschismus war die Rechtfertigung von erneuter Unterdrückung und Verfolgung, diesmal im Namen der kommunistischen Ideologie.“

Wer die Reden Milbradts in den Kontext neusächsischer „Erinnerungspolitik“ einordnet, findet den Weg zur Erklärung des heutigen „Patriotismus“ in Dresden. Solche Saat ist im ehemals braunen Sachsen gut gediehen.

Der Streit um die Wertung des Tages der Befreiung wird seit siebzig Jahren geführt.

Für Menschen wie den aus der SPD kommenden antifaschistischen Widerstandskämpfer und langjährigen KZ-Häftling Otto Buchwitz und andere an seiner Seite war es buchstäblich ein Tag der Befreiung, für die in Nürnberg zum Tode verurteilten und später gehenkten Marschälle Keitel und Jodl ein Tag der schwersten Niederlage.

Der Streit um den Platz des 8. Mai 1945 scheint der Streit um einen Begriff der Historie zu sein, doch bei genauerem Hinsehen handelt es sich um höchst aktuelle Politik.

Die konträren Bezeichnungen dieses Tages lauten: Kriegsende, Kapitulation, Niederlage, Katastrophe, Zusammenbruch, Stunde Null, Besetzung, Befreiung. Es lohnt sich, jeden dieser Begriffe auf seinen Gehalt zu prüfen. Der Begriff Faschismus wird in der BRD von Staats wegen nicht verwendet. Daran hielt sich auch Weizsäcker. Das Wort Kriegsende ist als Bezeichnung für jenen denkwürdigen Tag im Mai unstrittig. An ihm endete der Zweite Weltkrieg, allerdings nur in Europa. In Asien dauerte er fort, bis sich auch der kaiserlich-japanische Imperialismus geschlagen geben mußte. Das Ende des Krieges, der am 1. September 1939 durch den Überfall der Hitlerfaschisten auf Polen ausgelöst worden war, hatten sich die meisten Deutschen zwar schon seit längerem gewünscht, viele allerdings mit einem anderen Ausgang.

Als 1941 dann die UdSSR überfallen wurde, führte der Verlauf der Kampfhandlungen nach Anfangserfolgen des Aggressors zu herber Enttäuschung. Die neu aufkeimende Hoffnung vieler Deutscher wurde spätestens Anfang 1943 zunichte gemacht. Nach Stalingrad begann sich das Bild vom Kriegsgeschehen und dessen Perspektive einschneidend zu wandeln. Das geriet schließlich bis zu jener Haltung: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Daß den Deutschen „am Tage danach“ eine ganz andere Rechnung präsentiert werden würde als die des Jahres 1919 – dessen waren sich viele bewußt. Gerichtshöfe und Henker warteten auf jene, welche gefordert hatten, den Krieg „bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone“ fortzusetzen.

Jene Deutschen aber, welche immer noch auf den Endsieg gehofft hatten, empfanden das Geschehen als ärgste Niederlage, weit schlimmer noch als die des Kaiserreiches. Daran konnte niemand zweifeln. Denn als der 1. Weltkrieg im November 1918 mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde im Wald von Compiègne zu Ende gegangen war, befanden sich keine Soldaten der Kriegsgegner Deutschlands auf dessen Territorium. Die Front war von der Reichsgrenze im Westen weit entfernt, und erst später wurden, in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Friedensvertrags von Versailles, Teile dieses Gebiets von militärischen Einheiten der Siegermächte besetzt.

Im Mai 1945 aber lagen die Dinge völlig anders. Die Truppen der Antihitlerkoalition waren kämpfend ins Reichsinnere vorgedrungen, ihre Soldaten standen in Berlin, München, Hamburg und Leipzig. Eine deutsche Regierung gab es nicht mehr. Was sich dafür ausgab und an der dänischen Grenze etablierte, hatte nur eine kurze Galgenfrist. So war es nicht einmal nach der preußischen militärischen Katastrophe von 1806 zugegangen, als Napoleons Truppen gesiegt hatten. Der Begriff Niederlage erhielt in der deutschen Geschichte einen neuen Inhalt. Er verband sich mit der zusätzlichen Kennzeichnung total.

Aus dem „totalen Krieg“, den Goebbels unter dem zustimmenden Gebrüll der Pseudo-Reichstagsabgeordneten verkündet hatte, war die totale Niederlage, die „deutsche Katastrophe“ geworden. Die Charakterisierung des Kriegsendes als Untergang spielte im landläufigen Sprachgebrauch kaum eine Rolle, tauchte aber in politischen Wertungen nach 1945 auf. Die gebräuchlichste Bezeichnung für das Geschehene lautete Zusammenbruch. Noch Jahre später, als die schlimmsten Kriegsfolgen längst überwunden waren, wurde die keiner weiteren Erläuterung bedürfende umgangssprachliche Redewendung „nach dem Zusammenbruch“ gebraucht.

Was war da eigentlich zusammengebrochen? Nicht nur Häuser und Brücken, Wassertürme und Gasbehälter, Fabrikschlote und Förderanlagen, Kirchen und Theater. Nicht einmal nur ein Staatswesen, das zwölf Jahre existiert hatte, nachdem es mit dem Anspruch auf 1000 Jahre angetreten war.

In Trümmern lag 1945 auch die Gedanken- und Gefühlswelt der meisten Deutschen. Millionen empfanden schmerzlich, daß ihre Lebenspläne, die sie mehr oder weniger eng an den Faschismus und Hitler gebunden hatten, restlos zerstört waren. Ratlosigkeit, Resignation und Depression charakterisierten die Stimmung.

Zunächst konnten nur wenige diesen Zusammenbruch als Chance eines Aufbruchs begreifen. Am Anfang waren das vor allem jene, welche als politische Gegner und Verfolgte des Regimes versucht hatten, dessen Ende herbeizuführen oder zu beschleunigen.

Das einprägsame Bild von der Stunde Null war in Sprache und Denken erst Jahre nach dem Krieg aufgetaucht, dann aber populär. Filme und Bücher hatten mit ihren Titeln dazu beigetragen.

In der BRD kam 1969 „Meine Stunde Null“ – die abenteuerliche Geschichte der Wandlung eines jungen Wehrmachtssoldaten – in die Kinos. Dieser Streifen wird noch heute gelegentlich von Fernsehsendern ausgestrahlt. Null sollte hier soviel heißen wie die unterste aller denkbaren Lebensstufen, einen Abstieg ins Leere, zugleich aber auch einen Standort, von dem aus es nicht mehr tiefer hinabging.

Doch die Geschichte kennt keinen Nullpunkt. Jeder ihrer Momente enthält Kontinuität und Diskontinuität, Fortgang der Dinge und Wandel bis zum Bruch. So war das auch im Mai 1945. Dem einzelnen mochte es zwar so vorkommen, als stünde er vor dem Nichts. Doch die sozialen Klassen und Schichten verfolgten auch in einer solchen Situation ihre Interessen und Pläne. Sie hatten modifizierte oder neue Ziele, ja selbst Vorstellungen von ihrer künftigen Strategie und Taktik. Denn verzweifeltes Dahindämmern der einen stand nüchternste Klarsicht anderer gegenüber. Die Führungszentren des deutschen Kapitals besaßen stets ihre Pläne „für die Zeit nach Hitler“. Nicht anders verhielt es sich bei den Parteien der Arbeiterbewegung.

Ein wesentlicher Aspekt, der die Geschichte der Deutschen beeinflußte, war die Rolle der Siegermächte. Deutschland war nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 von ihren Armeen vollständig besetzt worden und blieb das auf Jahrzehnte hinaus. Es bestanden ein Alliierter Kontrollrat mit Sitz Berlin und vier Besatzungszonen: Ohne Einwilligung der Militärregierungen konnte kein Schritt zur künftigen Gestaltung gegangen werden. Deutschland – wie anfangs auch Österreich – war besetztes Gebiet. Das entsprang dem Willen der vier Großmächte. Ihr programmiertes Ziel war es, Faschismus und Militarismus dauerhaft auszurotten und „die Deutschen“ daran zu hindern, jemals wieder andere Länder mit Krieg zu überziehen.

Die Bestrebungen der Sieger, dahin zu gelangen, scheiterten indes, da sie nicht alle in die gleiche Richtung strebten und Inhalt wie Methoden ihrer Politik konträr waren. Die Regierungen der kapitalistischen Großmächte kehrten zu ihrer alten antisowjetischen Politik zurück, die lediglich durch die Bildung des faschistischen Staatenblocks und die Formierung der Antihitlerkoalition im 2. Weltkrieg zeitweilig unterbrochen worden war.

Auf ihrem opferreichen Weg von den Ufern der Wolga und den Küsten der Normandie in das Innere des Deutschen Reiches hatten die Soldaten der alliierten Armeen viele Millionen Menschen aus der Gewalt der Eroberer befreit – Franzosen und Russen, Belgier und Niederländer, Tschechen, Ukrainer, Polen und Angehörige vieler anderer Nationen. Für sie hatte das Wort Befreiung einen unzweideutigen, im Wandel ihres Alltags sofort spürbaren Sinn. Von vielen war die Last der jahrelangen Todesdrohung genommen. Manche sagten, ihnen sei das Leben ein zweites Mal geschenkt worden. Das galt vor allem für die Häftlinge in faschistischen Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Indessen veränderte sich die Situation für die Befreier, als sie die Reichsgrenzen überschritten. Bis dahin waren sie begrüßt, gefeiert und von frommen Menschen gesegnet worden. Nun aber befanden sie sich auf deutschem Territorium, also in jenem Land, dessen Politik mit Unterstützung des überwiegenden Teils seiner Bewohner in ganz Europa so viel Unheil angerichtet hatte. Über die Grenzen wurden Gefühle des Hasses, der Revanche und der Rache mitgenommen, in ihrem Grad vielfach abhängig von dem Leid, das den einzelnen Soldaten und ihren Nächsten widerfahren war, die nun hoffen konnten, daß sie den Tag des Sieges erleben würden.

Und die Deutschen? Wenngleich viele es nicht wußten, so ahnten sie doch, was ihnen blühen würde, wenn nun eine Abrechnung erfolgen sollte, die den Finger auf jeden Posten legte und Gleiches mit Gleichem vergalt. Das Gefühl des Befreitseins konnte bei ihnen da nicht aufkommen. Weder bei denen, die Haus und Hof verlassen mußten, noch bei den geschlagenen Soldaten Hitlers, die den Weg in die Kriegsgefangenschaft anzutreten hatten, noch bei den Millionen „kleinen“ oder sich nun klein machenden Nazis, die damit rechnen mußten, daß von ihrer Rolle nicht ohne Folgen die Rede sein würde. Und selbst jene, welche vom Krieg kaum etwas zu spüren bekommen hatten, sahen beklommen in die Zukunft.

Richard von Weizsäcker hat für diese Menschen beeindruckende Worte gefunden.

Kann es Zufall sein, daß sowohl „Der Spiegel“ als auch der „Zeit“-Verlag den Begriff Zusammenbruch bevorzugten? Wer oder was brach denn da zusammen? Mußte man den Kollaps Hitlerdeutschlands etwa bedauern?

War 1945 wirklich als eine „Stunde Null“ zu betrachten, wenn sich vor und nach dem 8. Mai dieselben politischen Kräfte – unter radikal veränderten Bedingungen – abermals gegenüberstanden? Kannten sich Kanzler Konrad Adenauer und Präsident Wilhelm Pieck nicht bereits aus dem preußischen Staatsrat?

Mit Begriffen wie Niederlage, Kriegsende, Kapitulation, Zusammenbruch und anderen wird versucht, das Wesen des Tages der Befreiung als einer weltgeschichtlichen Zäsur zu vernebeln. Doch der Streit um Begriffe widerspiegelt diametral entgegengesetzte politische Traditionen und Konzepte. Die Erinnerung an den Tag der Befreiung darf nicht im Nebel falscher „Vergangenheitsbewältigung“ untergehen!