RotFuchs 221 – Juni 2016

Eine Streitschrift gegen die offiziöse Demagogie

Faschismus-Diagnosen

Arnold Schölzel

Wer in der Bundesrepublik Faschismus als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet, wird vom Inlandsgeheimdienst, Verfassungsschutz genannt, beobachtet. Laut Bericht des entsprechenden Landesamtes Bayern ist das z. B. beim Historiker Kurt Pätzold, der kürzlich den Band „Faschismus-Diagnosen“ vorlegte, der Fall. Arbeiten wie diese müssen also wegen Extremismusverdachts registriert werden, Vorträge finden vermutlich unter Aufsicht statt. Die Behörde, die das betreibt, gibt ebenso wie die anderen 16 Verfassungsschutzämter auf Landes- und Bundesebene vor, nie etwas von der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds gewußt zu haben. Fest steht allerdings, daß es allein im Nürnberger Gebiet von ihren Agenten mit ausgezeichneten Kontakten zu Thüringer Neonazis nur so wimmelte. Die wiederum wurden dutzendfach von Thüringer Amtskollegen gefördert, wie ein Untersuchungsausschuß des dortigen Landtages festgehalten hat.

„Millionen stehen hinter mir!“, Fotomontage für die „Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“ von John Heartfield (1932)

„Millionen stehen hinter mir!“,
Fotomontage für die
„Arbeiter-Illustrierte-Zeitung“
von John Heartfield (1932)

Das Thema Faschismus wird 70 Jahre nach der militärischen Zerschlagung der verheerendsten Ausgeburt dieser politischen Bewegung, der deutschen, in Behörden, Schulen, an den Universitäten und in den Medien der Bundesrepublik mit grotesker Heuchelei behandelt. Wer den Begriff an Stelle von Nationalsozialismus verwendet, macht sich verdächtig, dem bundesdeutschen offiziösen Fundamentalismus von „Rechte und Linke haben die Weimarer Republik zerstört“, „Rot gleich Braun“, „zwei deutsche Diktaturen“, „Totalitarismus“ oder „Extremismus“ nicht anzuhängen. Der Begriff sei offenkundig „aus Deutschland-West erfolgreich importiert worden“, so Pätzold. Er illustriert das mit einer Episode, die sich 2010 in der Humboldt-Universität zutrug: In einem Seminar wurde Geschichtsstudenten aufgetragen, Texte des Publizisten und Antifaschisten Carl von Ossietzky zu lesen. Als man sich erneut traf, habe sich die Seminarleiterin erkundigt, ob es Fragen oder Kommentare zum Gelesenen gebe. „Darauf fragte eine Teilnehmerin, ob dieser Ossietzky ein Kommunist gewesen sei, und erklärte auf die Gegenfrage, wie sie darauf gekommen sei, er schreibe doch ,Faschismus‘, also nicht ,Nationalsozialismus‘.“

Pätzold weist darauf hin, daß die Verwendung des demagogischen Etiketts „Nationalsozialismus“ durch seine Erfinder und heutigen Verbreiter einhergeht mit dem Schweigen über die Gesellschaft, die Regime und Ideologie hervorbrachte. Er stellt nach seiner Einführung, in der er sich u. a. detailliert mit Einwänden gegen die Faschismusdefinition der Kommunistischen Internationale (KI) befaßt, 65 Auszüge aus Texten kommunistischer, sozialdemokratischer, linker Politiker und Publizisten vor, die sich als Zeitgenossen mit dem Faschismus befaßten. Die Zusammenstellung ist chronologisch geordnet und reicht von einer Rede des Begründers der Italienischen Kommunistischen Partei, Amadeo Bordiga, im November 1922 auf dem IV. Weltkongreß der KI über „Ursprünge und Anfänge der faschistischen Bewegung bis zu einem Text des ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers Georg Lukács von 1945 über „den weltgeschichtlichen Ort des (deutschen) faschistischen Regimes“. Seine Absicht sei gewesen, so Pätzold, „den historischen Prozeß der Analyse der neuartigen Erscheinung zu verdeutlichen“. Das sei mit Fehlern und Irrtümern verbunden gewesen. Pätzold weist z. B. auf die inflationäre Bezeichnung der Sozialdemokratie und bürgerlicher deutscher Regierungen vor 1933 als „faschistisch“ von seiten kommunistischer Politiker hin. Texte dieser Art, die „einen eigenen Band füllen könnten“, wurden hier aber nicht aufgenommen, ebensowenig Kontroversen über Strategie und Taktik des Widerstands.

Eine Auswahl dieser Art hat es in deutscher Sprache noch nicht gegeben; um so mehr ist zu hoffen, daß sie eine weite Verbreitung findet – auch als Mahnung: daß politische Irrtümer bei wesentlichen Themen „meist bitter bezahlt werden müssen“, so Pätzold, und „daß ohne theoretische Arbeit praktische politische Erfolge nicht zu erzielen sind“. Zusammen mit der Einführung – einem Mustertext für eine trotz der Kürze umfassende Analyse einer Problemgeschichte – weisen die Auszüge die Existenz einer vernachlässigten Traditionslinie vor allem marxistischer Theorie nach. Bücher dieser Art sind angesichts der aktuellen Situation zur Aufklärung der Demagogie im Umgang mit Faschismus und Faschisten erneut dringend nötig.

Kurt Pätzold:

Faschismus-Diagnosen

Verlag am Park, Berlin 2015, 140 Seiten

12,99 Euro