RotFuchs 207 – April 2015

Für ein elftes Gebot

Edda Winkel

Der polnische Journalist und Historiker Dr. Marian Turski wurde 1926 geboren. Als 16jähriger im Ghetto von Łódz, das die Faschisten Litzmannstadt genannt hatten, eingesperrt, führte sein Leidensweg ins KZ Auschwitz. Er überlebte den Todesmarsch nach Buchenwald und kam schließlich ins Ghetto Theresienstadt. Er hat erleben müssen, wie die Menschen brutal gefoltert, ermordet, in Krematorien verbrannt wurden. Die Opfer waren Juden wie er, politische Häftlinge, Sinti, Roma, sowjetische Kriegsgefangene und Homosexuelle. Mehr als eine Million Menschen sind allein in Auschwitz ermordet worden, wo das Grauen vor 70 Jahren für die letzten 7500 Überlebenden endete. Sie wurden von der Roten Armee gerettet.

Als ich vor 40 Jahren mit einer Gruppe Gewerkschafter in Auschwitz war, stockte mir der Atem, packten mich Grauen und Entsetzen. In der DDR zur Schule gegangen, hatte ich schon viel über das Vernichtungslager im Unterricht erfahren, doch die Berge von Brillen, Schuhen und Kinderkleidung machten mich fassungslos und beklommen. Die Tränen rannen, und ich verbarg das nicht. Ich schämte mich, fühlte mich schuldig, obwohl ich später zur Welt kam. Ich bin eine nachgeborene Deutsche.

Die noch lebenden einstigen Auschwitz-Häftlinge haben anläßlich des 70. Jahrestages ihrer Befreiung zum Kampf gegen Intoleranz, Gleichgültigkeit und Antisemitismus aufgerufen. Ich befürchte, daß die Deutschen sie nicht gehört oder ihnen nicht zugehört haben. Ignoranz, Arroganz und Desinteresse rauben noch immer vielen die Sinne. Die Worte von Evelyn Hecht-Galinsky scheinen sie nicht zu erreichen: „Fassungslos sehe ich, wie der Islam, wie Rußland zu Haßobjekten der Medien und Politiker werden.“ Nicht weniger berührend ist der Rat des Überlebenden Roman Kent: „Wenn ich könnte, würde ich ein elftes Gebot verfügen: Du sollst kein unbeteiligter Zuschauer sein!“ Hören die Menschen das? Wird das Gebot erfüllt? Oder mißachtet man es ebenso wie die anderen christlichen Gebote? Wer kennt sie? Wer hält sie ein? – Und Lessing? Hat das Wort seines Nathan auch kein Gewicht? Wurde die Ringparabel vergessen? Viele folgen eher den drei asiatischen Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!“ Übrigens haben sie den ursprünglichen Inhalt: Du sollst „über Schlechtes weise hinwegsehen“ verloren und wurden durch die entstellende Formel „Alles Schlechte nicht wahrhaben wollen“ ersetzt. So verbrämt man mangelnde Zivilcourage.

Die drei Affen stehen auch in meinem Regal. Daneben werde ich die Worte des polnischen Auschwitz-Überlebenden Marian Turski stellen: „Auschwitz begann mit der Demütigung des Menschen. Wenn heute jemand einen Roma, einen Juden, einen Bosnier, einen Türken, einen Israeli, einen Palästinenser, einen Christen, einen Moslem oder einen Ungläubigen demütigt, so ist das ein neuer Beginn von Auschwitz.“