RotFuchs 222 – Juli 2016

Rechter Umsturz und wachsender Widerstand in Brasilien

Gangster am Ruder

Peter Steiniger

Es ist ein Drama. Mit der – theoretisch vorläufigen – Suspendierung der Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) aufgrund der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens ging eine Ära zu Ende. Mehr als zwölf Jahre lang bestimmten von der PT geführte Regierungen die große Linie der Politik Brasiliens. Mit Sozialprogrammen, die weltweite Anerkennung fanden, wie „Bolsa Familia“ und „Fome Zero“, konnten diese die extreme Armut und den Hunger zurückdrängen. Dank der Politik Rousseffs und vor allem ihres Vorgängers im höchsten Staatsamt, Lula da Silva, verbesserten sich die Lebensbedingungen für Millionen Brasilianer. Menschen aus den unteren Schichten erhielten Zugang zu Bildung und Gesundheit. Auf der Weltbühne spielte Brasilien eine wichtige, selbstbestimmte Rolle im Rahmen der BRICS-Staaten.

Protestgeschrei und Gejohle reaktionärer Abgeordneter

„Liebe Abgeordnete, das hier ist nicht anderes als ein Putsch“, ruft Generalbundesanwalt José Cardozo in die Menge. Er stellte sich hinter Präsidentin Dilma Rousseff. Seine Worte gingen unter im Protestgeschrei und Gejohle reaktionärer Abgeordneter.

Rousseffs Stelle nimmt nun als Interimspräsident ihr Stellvertreter Michel Temer von der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) ein. Für September wird mit einer endgültigen Entscheidung über die Absetzung Rousseffs gerechnet. Die PMDB, ein rechtsliberales Sammelbecken, das sich den Meistbietenden andient, hatte Ende März die Koalition mit der Arbeiterpartei aufgekündigt. Temer, längst Teil eines Komplotts gegen Rousseff, hat eine „Regierung der nationalen Rettung“ berufen. In seinem Kabinett sitzt nun auch die bisherige rechte Opposition, die bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 unterlag. Es ist ein reaktionärer Club weißer Männer, der eine politische 180-Grad-Wende anführt. Der neue Justizminister Alexandre de Moraes (PSDB) war früher Anwalt des Verbrechersyndikats PCC und machte sich zuletzt als Sekretär für öffentliche Sicherheit im Bundesstaat São Paulo als Hardliner einen Namen, der die Militärpolizei gern brutal auf linke Demonstrationen hetzte. Die Landwirtschaftspolitik liegt in den Händen des Soja-Königs Blairo Maggi. Im Staatsdienst laufen politische Säuberungen an. Das von Temer formulierte Programm „Eine Brücke in die Zukunft“ zielt auf einen neoliberalen Schock mit einer Welle von Privatisierungen und der Demontage sozialer Errungenschaften. Das Rentenalter soll steigen und das Arbeitsrecht „flexibilisiert“, also weiter ausgehöhlt werden. Sofort angesetzt wurde der Rotstift beim geplanten Bau von Sozialwohnungen.

Die Leitlinien der neuen Außenpolitik bestimmt PSDB-Altpolitiker José Serra, zweimal war er deren geschlagener Kandidat bei Präsidentschaftswahlen. Die Interessen der Nation – die ganze ist nicht gemeint – und ihrer Ökonomie sollen demnach über allem stehen, Freihandelsabkommen vorangetrieben werden. Damit hält eine Politik Einzug, die „nicht mehr den Überzeugungen und ideologischen Vorlieben einer politischen Partei und der ihrer Alliierten im Ausland“ dient. Serra orientiert darauf, Brasilien näher an die EU, Japan und vor allem die USA heranzuführen, deren Konzernen er die Türen zum Ölriesen Petrobras aufschließen möchte.

Vor ihrer Absetzung hatte Rousseff wiederholt die Öffentlichkeit alarmiert, daß in ihrem Land ein „Putsch“ am Laufen sei. Hunderttausende, mobilisiert von breiten linken Bündnissen, demonstrierten gegen ihre Absetzung. Am 17. April stimmten mehr als zwei Drittel der Parlamentarier des Unterhauses für einen solchen Prozeß, der mit angeblichen Haushaltstricks begründet wird. Es war eine denkwürdige Sitzung, geleitet von Parlamentspräsident Eduardo Cunha (PMDB), der bald nach Abschluß dieser Mission wegen erdrückender Beweise für kriminelle Machenschaften Amt und Mandat verlor. Abgeordnete des Ja-Lagers widmeten ihre Stimme Gott, dem Vaterland und der Familie, verfluchten sogar die Korruption, obwohl die meisten von ihnen genau deshalb die Justiz im Nacken haben. Konservative, Liberale und Anhänger der CIA-geförderten faschistischen Militärdiktatur von 1964 bis1985 schmähten die Arbeiterpartei, die kämpferische Landlosenbewegung MST und die rote Gewerkschaft CUT. Am 12. Mai machte der Senat den Sack dann zu, das „Impeachment“ nimmt seinen Lauf.

Beim Auszug aus ihrem Amtssitz versprach Dilma, wie sie in Brasilien nur genannt wird, vor Tausenden Anhängern, bis zuletzt weiter um das ihr vom Volk gegebene Mandat zu kämpfen. Sie verdankt es 54 Millionen Wählern. Die Rechte und ihre mächtigen Konzernmedien hatten diesen Ausgang nie akzeptiert. Sie mobilisierten die weiße Mittelklasse zu aggressiven Protesten gegen die Regierung und schürten Haß. Diesen Kräften kam entgegen, daß Rousseff, angeschlagen durch die Wirtschaftskrise im Land – Folge des Verfalls der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt – und die PT hilflos und blauäuig agierten. Mit Zugeständnissen vor allem an die PMDB hatte Rousseff nach der Wahl viel Rückhalt an der Basis verspielt. Zusammen mit Lula versuchte sie, den Kurs zu korrigieren, was die Intrigen der Rechten vereitelten.

Unter der Losung „Fora Temer!“ (Weg mit Temer!) hagelt es Proteste gegen den amtierenden Präsidenten. Mit Besetzungen, Straßenblockaden und Demonstrationen wehren sich allerorten zig Tausende gegen die neuen Machthaber. Temers Gefolgsleute werden, wo sie in der Öffentlichkeit auftreten, als „Putschisten und Faschisten“ beschimpft. Auch im Ausland entsteht eine Solidaritätsbewegung gegen den Staatsstreich in Brasilien. Daß es sich um einen solchen handelt, liegt auf der Hand. Schon, weil eine solche Art des Politikwechsels im dortigen Präsidialsystem, 1993 per Plebiszit verankert, nicht vorgesehen ist. Durch die Wahl des Präsidenten legt das Volk auf nationaler Ebene dessen Richtung fest – nicht das wenig repräsentative Parlament in Brasília. Nur ein Verbrechen der Präsidentin würde ihre Absetzung erlauben. Doch es gibt nur eines gegen sie. Der institutionelle Putsch hat diese Ordnung ausgehebelt, allerdings unter Beihilfe eines parteiisch agierenden Obersten Gerichtes. Brasiliens Rechtswesen ist nicht nur aufgebläht und ineffektiv, sondern auch auf allen Ebenen hochgradig korrupt und traditionell rechtslastig.

Die Operation der Justiz „Lava Jato“, welche Korruption und illegale Wahlkampffinanzierung – beides hat in Brasilien Tradition – rund um Petrobras und den Baukonzern Odebrecht untersucht, ist zum Staat im Staat geworden. Dieser zielt zwar gegen die PT, doch durch Kronzeugen entsteht eine Kettenreaktion, welche vor allem die traditionelle politische Klasse bedroht. Immer neue Beweise dafür tauchen auf, daß die Rousseff-Regierung weg mußte, weil politische Gangster ihren Hals retten wollen. Mindestens sieben neue Minister und auch Temer selbst stehen eigentlich mit einem Bein im Knast.

Während etliche Regierungen die Vorgänge in Brasilien scharf kritisieren oder Distanz zur Temer-Truppe halten, schert Washington aus. Vor der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erklärte dessen Vertreter Michael Fitzpatrick, daß alles „perfekt den verfassungsrechtlichen Regeln entsprochen“ hätte. So sieht das sicher auch Liliana Ayalde, US-Botschafterin in Brasília. 2012, als Fernando Lugo nach ähnlichem Schema gestürzt wurde, hatte sie diesen Posten in Paraguay. 1964 läßt grüßen.