RotFuchs 219 – April 2016

Als vier bewegte Jahrzehnte der DDR-Geschichte
an meinen Augen vorüberzogen

Gedanken beim Betrachten
von DEFA-Wochenschauen

Cornelia Noack

Eigentlich wollte ich nur etwas mehr über das Jahr 1954 wissen, in dem ich geboren wurde. Damals sind wir nach Stalinstadt, wie Eisenhüttenstadt hieß, gezogen. Was sich im Land insgesamt zugetragen hat, wußte ich nicht und war deshalb neugierig. Irgendwo entdeckte ich den Jahrgang 1954 des DEFA-Augenzeugen und holte ihn mir in meinen Fernseher. Inzwischen besitze ich das Angebot dieser bisweilen atemberaubenden Filme von 1946 bis 1980. Tatsächlich kann ich keine Vokabel dafür finden, was sich mir da erschlossen hat. Das ist nicht nur ein reich bebilderter Geschichtsunterricht für später Geborene. Da sind auch meine Eltern mittendrin, und von den Schicksalen meiner Großeltern berichten mir fremde Menschen. So vermag ich zu erahnen, wie sich ein kaputtes Land 1945 angefühlt haben muß.

Mögen die ersten Streifen auch noch recht skizzenhaft erscheinen, so kommt die Frühzeit der DDR jedenfalls absolut ehrlich „rüber“. Meinen Wilhelm Pieck habe ich als Lütte schon sehr gemocht. Otto Grotewohl erschien mir damals etwas reservierter, doch wenn ich mir jetzt Szenen mit ihm ansehe, muß ich mich revidieren und ihm nachträglich hohen Respekt erweisen.

Kurt Maetzig

Kurt Maetzig, einer der Gründer des „Augenzeugen“

Überhaupt: Wer kann sich heute noch vorstellen, daß sich ein Regierender an die Werkbank oder in den Kuhstall begibt, um Arbeiter oder Bauern danach zu fragen, wo sie der Schuh drückt! Der Enthusiasmus der Menschen, der mir da entgegenschlägt, kann nicht verordnet gewesen sein, waren es doch einfach zu viele. Natürlich bin ich von den Berichten aus meiner Heimatstadt begeistert und stolz auf deren Erbauer. Dort war ich ja eine Zeitlang mittendrin, wenn auch mein aktives Handeln erst später begann.

Was waren das für Sorgen der ersten Nachkriegsgeneration, und wie haben sie es angepackt, um aus dem Elend herauszukommen! Nun weiß ich auch, warum wir so um Frieden und Einheit gerungen haben. Allein das erhebt uns haushoch über die „Bauleute“ des Staates der deutschen Kapitalisten. Und: Was wäre uns und der Welt erspart geblieben, wenn wir es geschafft hätten!

Im Osten wurden viele Betriebe zwar demontiert, aber man baute sofort etwas Neues auf: nicht um unliebsame Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, sondern zum Nutzen der Menschen. Manchmal arbeiteten schon die Maschinen, obwohl die Werkhalle noch gar kein Dach besaß. Gebaut wurde in beiden Teilen Deutschlands. Doch Wohnungen für das arbeitende Volk waren „drüben“ schon damals Mangelware. Bei uns wurden Menschen dafür prämiert, daß sie eine Arbeitsverbesserung oder Materialeinsparung ertüftelten, „drüben“ ging es nur um Profit. Bei uns freute man sich über jeden neuen Kindergarten, weil dann die Muttis ihren verdienten Platz an der Seite der Männer einnehmen und arbeiten gehen konnten. Und man schickte Werktätige zur Kur oder für ganz wenig Geld in die Urlaubsheime der Gewerkschaften.

Da taucht meine Fibel plötzlich auf! Denn viel wird im „Augenzeugen“ von den Schulen mit allem Drum und Dran gezeigt. Na, und wer über die ABF seinen Weg nahm, der weiß auch, unter wieviel besseren Bedingungen Arbeiter- und Bauernkinder nun ihr Wissen erlangen konnten.

Interessant waren für mich auch die recht zahlreichen Berichte über die Kirchen und deren Mittun in der Gesellschaft. Herrlich sind die Anfänge des Sports dokumentiert, als Fußballplätze noch Stoppelfeldern ähnelten und die Trainingshosen der Skispringer im Wind wedelten. Mit welcher Begeisterung feuerte das Publikum unsere Friedensfahrer oder Leichtathleten an, die in allmählich entstehenden neuen Sportstätten ihre Talente entwickeln konnten. Und was erfährt man alles über die Kultur, ob klassisch oder modern, über Maler, Schauspieler, Artisten und Volkskünstler aus dem eigenen Land oder von weither.

Wir lernten das Leben in den Sowjetrepubliken kennen und sahen, mit welcher Freude die Menschen dort damals ans Werk gingen, welche Achtung sie auf der ganzen Erde genossen und was wir ihnen zu verdanken hatten. Unsere volksdemokratischen Nachbarländer waren von der gleichen Aufbruchstimmung erfaßt. Wie erleichtert war man in Warschau, als der Vertrag über die Oder-Neiße-Friedensgrenze von Polen und der DDR unterzeichnet wurde. Wie viele junge Nationalstaaten hatten damals den Mut, ihre Geschicke selbst zu bestimmen, wobei sie uns an ihrer Seite wußten. Im Irak bauten wir Teppichfabriken, unsere LKWs fuhren in zig ehemaligen Kolonien, Impfstoffe und Schulbücher gehörten zum Sortiment der Solidaritätsgüter. Alles, was wir taten, geschah ohne Fremdkredite und trotz des hohen Bedarfs in den eigenen Grenzen. Auch die „Augenzeugen“-Berichte über die Leipziger Messen und deren ständig wachsende Ausstrahlungskraft konnten sich sehen lassen.

Die DEFA sparte schließlich auch nicht mit Informationen über die Wühl- und Sabotagetätigkeit solcher Feinde des Neuen wie der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, des „SPD-Ostbüros“ und ähnlicher „Zentralen“, was den Beweis dafür lieferte, daß die DDR ihrer Staatssicherheit dringend bedurfte.

Als ich dann den Augenzeugen 1/1975 über Portugals Nelkenrevolution – den einzigen Vorstoß von solcher Tiefe und Breite in Westeuropa – sah, freute ich mich, denn der Berichterstatter vor Ort war unser Klaus Steiniger, der heute noch so vielen die Augen für das Geschehen in der Welt öffnet.

Natürlich kann hier nicht auf alle Details eingegangen werden, handelte es sich doch um mehr als 40 Jahre Geschichte. Doch wir wußten, warum und wofür wir diesen Versuch wagten. Inzwischen liegen bereits wieder 25 harte Lehrjahre im zurückgekehrten Kapitalismus hinter uns. Vielleicht schämen sich so manche unterdessen ihrer damaligen Wegwerfmentalität und beklagen Verlorenes. Die Vereinigungsschreihälse von einst haben längst keine Konjunktur mehr.

Gut, daß ich mir die „Augenzeugen“-Serie gekauft habe, um mich noch einmal davon überzeugen zu können, daß die DDR mein Mutter- und mein Vaterland war. Ich habe meine Neugierde zu stillen vermocht. Den Sammlern jüngerer Generationen kann ich nur empfehlen, diese kostbare Edition zu erwerben. Möge ihnen dabei das Motto der DEFA-Wochenschau hilfreich sein: „Sehen Sie selbst, hören Sie selbst, urteilen Sie selbst!“