RotFuchs 220 – Mai 2016

Die „Plötzlich-Demokraten“ der „Über-Nacht-Wende“
nach der Machtwende

Gedanken eines katholischen Weggefährten

Dr. Wilfried Meißner

Bis heute frage ich mich, was Menschen veranlaßte und veranlaßt, von denen man glaubte, mit ihnen Gemeinsames zu haben, ihre Haltung, Standpunkte und politischen Bekenntnisse buchstäblich über Nacht zu vergessen und sich völlig neu zu erfinden.

Ich habe dieses „unheimliche“ Geschehen nach dem Untergang des faschistischen 3. Reiches schon 1945 erlebt. Nicht wenige, die über Jahre „braun“ dachten und in dieser Farbe auch marschierten, trugen plötzlich „rot“ oder „schwarz“ und taten so, als wären diese Farben schon immer die ihren gewesen. Jahrzehnte später erfolgte eine gravierende Veränderung, die aber nicht bedacht, zukunftsorientiert und friedensfördernd vollzogen wurde. Jetzt trug man plötzlich schwarz, gelb oder grün. Einige von jenen, mit denen ich früher als NDPD-Mitglied blockfreundschaftlich zusammengearbeitet, gelacht und geschimpft hatte, kannten mich plötzlich nicht mehr. Sie taten so, als wären sie das, was sie nun zu sein angaben, schon immer, wenn auch im geheimen, gewesen.

Sollte man bei solcher Wandlungsfähigkeit nicht um die Zukunft besorgt sein? Sind derlei „Mutationen“ im politischen Farbenspektrum nur ein Trieb nach Veränderungen oder Ausdruck von Angst um die eigene Zukunft in Arbeit, Brot und Ehren? Ist demnach dieser Prozeß der Selbsttäuschung, der Verleugnung des eigenen Ichs und des Gesinnungswandels nicht auch das Produkt einer Unehrlichkeit befördernden Meinungsdiktatur, welche die Anpassung geradezu herausfordert? Für mich wird hier die biblische Geschichte am Ölberg wieder lebendig, als Zeitzeugen aus dem Kreis um Jesus von Nazareth diesen plötzlich verleugneten. „Ich kenne ihn nicht …“, sprach Petrus, und später tönte dann aus dem Volke: „Schuldig, schuldig, kreuziget ihn!“ Über dieses Verhalten und seine Ursachen lohnt es sich nachzudenken, geht es doch um Lauterkeit und Beständigkeit im Denken, Fühlen und Verhalten von Menschen zu Menschen.

Von welcher Weltanschauung, so frage ich mich, wurde und wird das Tun derer bestimmt, „die über Nacht so anders wurden“?

Meine Gedanken kreisten nach dem Zweiten Weltkrieg um die Frage, welche Menschen uns begegnen, wie wir wohnen und welche Zukunft meine Eltern und ich nach dem Krieg haben werden. Die Vorstellungen waren so etwas wie Reflektoren, auf die das „Licht“ meiner Überlegungen fallen mußte. Und sie leuchteten bei den ersten Begegnungen in einer neuen Umwelt auf. Es waren Menschen, die uns halfen, mit uns fühlten und Mut machten. Unter ihnen befand sich auch der katholische Pfarrer.

Überall, wo das Leben mich hintrug, begleiteten mich in die Zukunft weisende Wünsche. Ich suchte Widerhall, entgegengestreckte Hände, ein Willkommen. Dabei interessierte mich sehr wohl, in welchem Staat ich nun lebte und welche gesellschaftlichen Ziele sich dieser stellte. Mein alles überragender brennender Wunsch war es, meinen Lebensweg im Frieden und mit der Aussicht auf eigene Gestaltung gehen zu können. Mich interessierten Menschen, die als Vertreter neuer gesellschaftlicher Denk- und Lebensweisen in mein Blickfeld traten. Was waren das für Charaktere, konnte man ihnen trauen, vertrauen? Waren ihre Vorstellungen über uns und die Zukunft glaubwürdig, und entsprachen sie meinen Wünschen und Vorstellungen?

In diesem Aufeinandertreffen von Realität und Erwartung wurde die Wahrheit in der Praxis, im Alltag deutlich. So erschienen mir Persönlichkeiten und deren programmatische Gedanken in vielen Punkten als lebenswerte Zukunft. Sie reflektierten meine Vorstellungen mit meinem jeweiligen Wissens- und Erfahrungsstand.

Dieser Lernprozeß dauert ein Leben lang. Gerade in düsteren Situationen mit ihren oft langen Nächten gehen meine Gedanken auf Lichtsuche. Werden sie getragen von dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe, bleibt die Reflexion des Lichtes, das die Dunkelheit durchdringt, nicht aus. Die oft mühe- und schmerzvolle Suche nach Licht begleitet mich das ganze Leben lang. Es ist ein Weg der Prüfungen und der Beurteilung des eigenen Daseins durch uns selbst und unsere Mitmenschen. Das „philosophische Katzenauge“ hilft mir, das Notwendige zu erkennen, ernst zu nehmen und nach Möglichkeit für mein Tun zu beachten.